von Gerd Kaiser
Die hessische Kirchgemeinde in Wächtersbach hatte eine restaurierte Orgel zu verschenken. Durch Vermittlung der Cottbuser St. Nikolai-Gemeinde war das in 70000 Einzelteile zerlegte Instrument über 3 000 Kilometer nach Sarepta zu transportieren, einem Vorort von Wolgograd.
Sechs Männer übernahmen in ihrer Frei- beziehungsweise Urlaubszeit für Gotteslohn diese Aufgabe: der Cottbuser Landschaftsgestalter Thomas, der Einzelhändler Olaf, Lothar, der Angestellte einer Krankenkasse, und Wilfried, der Orgel-Enthusiast, Alexander, Bauunternehmer und auf dieser Reise Verpflegungs-, Pack- und Werkzeugmeister, sowie schließlich Wolfgang, seit Jahrzehnten Rußlandkenner, nun Dolmetscher und Finanzverwalter.
Die Reise beginnt mit einem 800 Kilometer langen Umweg über Polen, Litauen und Lettland, weil der kürzere Transitweg durch die Ukraine oder durch Belarus viel mehr Zeit und Bürokratie kosten würde; deshalb will ‘man nur eine »richtige« EU-Außengrenze passieren, und die liegt in Lettland, an der Straße Riga-Moskau.
Die Grenzen zu Polen und zu Litauen werden im Vorüberfahren passiert. So kommen die Reisenden in Sachen Kirchenmusik am Morgen des 27. Februars in den letzten größeren Ort vor der Grenze zu Rußland, bis zu der noch etwa siebzig Kilometer zurückzulegen sind. Der Ort bietet nichts, dafür die Freundlichkeit der Menschen alles. Wir frühstücken fürstlich aus unserer Proviantkiste, haben gute Laune, denn wir liegen gut in der Zeit und werden noch an diesem Tag auf Mütterchen Rußlands Straßen rollen, der Magistrale Nr. 9 Riga-Moskau. Plötzlich stehen wir in einem Stau vor dem Grenzübergang, kein Baum, kein Strauch, aber unendliche Schnee-Wildnis zu beiden Seiten. Knapp acht Kilometer fahren wir mit dem Begleitfahrzeug nach vorn, um die Lage zu erkunden. »Drei bis vier Tage Wartezeit«, läßt uns der lettische Grenzposten wissen.
Beratung. Die Karte zeigt einen weiteren, etwa 50 Kilometer nördlich gelegenen Grenzübergang. Und siehe, nur 600 Meter Schlange, beidseitig der Straße schöner Wald, da läßt es sich trefflich warten. Um 14 Uhr haben wir umgesetzt, aber die Abfertigungsgeschwindigkeit tendiert gegen Null. Aber was macht das schon, zwei Tage nach der Abfahrt aus Cottbus stehen wird bereits an der russischen Grenze. Die Letten lassen immer nur soviel Fahrzeuge in ihren Kontrollbereich, wie es der Rückstau auf der russischen Seite gestattet. Acht Stunden für 600 Meter. Aber gegen 22 Uhr sind wir an der Reihe. Ruhig, gründlich und zügig werden unsere Papiere bearbeitet, schließlich sind wir an der Außengrenze der EU. Dann schließt sich der lettische Schlagbaum hinter uns, und wir tuckern der russischen Grenzstation entgegen. Soldaten mit riesigen Taschenlampen umstellen unseren Konvoi. »Die Zählkarten ausfüllen! »Zur Paßkontrolle!«, »Zum Doktor!« Die Befehle kommen hintereinander und sehr aggressiv. Eine andere Welt hat sich aufgetan. Mit dem Fähnrich im Kontrollhaus handelt Wolfgang in aller Ruhe die Reihenfolge der »Befehlsausführungen« aus. In einem Glaskasten sitzt eine mürrische Frau. Sie überwacht die ökologische Reinheit der nach Rußland eingeführten Güter. »Was haben sie geladen?« »Eine Orgel, zerlegt auf zwei LKW«. »Was soll das sein, eine Orgel?« »Ein Instrument zur Kirchenmusik.« »So etwas ist mir nicht bekannt«. Das ist schon möglich, denn die orthodoxe Kirche kennt keine Instrumente zur Begleitung der liturgischen Gesänge. Zum Glück hat Wilfried in seiner Dokumentenmappe auch Fotos der Orgel. »Und wo ist das ökologische Gutachten?« Wir zeigen ein in wohlwollenden Worten gehaltenes, gestempeltes und unterschriebenes Papier der Brandenburgischen Technischen Universität in Cottbus. »Wo ist die russische Übersetzung?« Ojeh. »Ich kann ihnen gern die deutsche Fassung erläutern.« »Das ist nicht nötig«, sagt die Frau Doktor und vertieft sich in den Text. Schließlich blättert sie noch in einer abgegriffenen Kladde und knallt charmant ihren Stempel auf unseren Laufzettel. Inzwischen hat jemand bei der Grenze festgelegt, daß wir eine falsche Visa-Art hätten, weshalb unsere Einreise illegal und strafbar sei, und wir wieder umkehren müßten. Wir haben aber keine Waren im kommerziellen Sinne, sondern humanitäre Hilfe. Der Schichtleiter ist ein an Jahren junger Oberleutnant, dessen Gesichtszüge aber schon von der schweren Schreibtischarbeit gekennzeichnet sind. Nochmals werden alle Papiere geprüft, Fragen gestellt, telefoniert. Vor allem ist den Herren Kontrolleuren nicht zu vermitteln, daß wir keine Spedition sind, sondern unsere Hilfe auf freiwilliger, ehrenamtlicher Basis befördern. Dafür haben sie in ihren Formularen aber keine Spalte
Nach acht Stunden Nervenkrieg dreht der Konvoi wieder ab und ist wieder auf lettischer Seite.
Nach Tagen werden wir plötzlich auf höchste Weisung an die Grenze bestellt …
Darüber und über die Reise bis nach Wolgograd ist lesenswertes im farbigen Reisebericht zu erfahren. Dort ist inzwischen die Orgel zu einem festen Bestandteil des Kulturlebens der Stadt geworden. Berühmte russische Organisten und internationale Gäste geben Konzerte, die Organistin Larissa unterhält eine Orgelschule mit mehr als zwanzig begeisterten Eleven. Kirchenmusikdirektor Wilfried Wilke unterstützt die pädagogische Arbeit mit regelmäßigen Musikseminaren. Auch der Kauf des Reiseberichts (23 Seiten, 5 Euro) unterstützt diese Arbeit und den Erhalt der Orgel. Zu bestellen im Internet über kroschka44@freenet.de oder Fax: 01805 323 26606116.
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