Am 27. Januar jährt sich zum 80. Mal
die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz.
Die promovierte Philosophin und Historikerin Susanne Willems hat ein Buch geschrieben. Über Auschwitz. Zu diesem Gegenstand sind aus verständlichem wie notwendigem Grund bereits ganze Bibliotheken erschienen. Anlässlich der achtzigsten Wiederkehr des Tages der Befreiung des größten der nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager wird es weitere Veröffentlichungen geben. Sie werden von den Verbrechen der Nazis und den Leiden ihrer Opfer berichten, von entsetzlichen Gräueltaten und millionenfachem Judenmord. Adorno wird mit seiner Feststellung von 1951 direkt oder indirekt zitiert werden, dass es barbarisch sei, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben. Was zur Erörterung ethischer Fragen führen und Emotionen auslösen wird … Alles richtig, alles notwendig, kein Wort dawider. Man darf nicht gefühllos und sachlich wie ein Buchhalter über Auschwitz reden und schreiben.
Allerdings wird bei bloßer Bewegt- und Betroffenheit gern die Feststellung von Max Horkheimer ignoriert, die aufs Grundsätzliche zielte: „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen.“ Als er das schrieb, hieß das schlesische Städtchen Oświęcim noch nicht Auschwitz, das kapitalistische Nazi-Deutschland hatte Polen noch nicht überfallen und in seine Kriegswirtschaft eingebunden.
Den Zusammenhang zwischen dem Charakter der Gesellschaft und seiner jeweils spezifischen Ausprägung hatte der jüdische Emigrant Horkheimer damit prinzipiell angesprochen. Über diesen Konnex spricht man im bürgerlichen Deutschland selten – es herrscht schließlich noch immer Kapitalismus hierzulande. Man sagt lieber: Der Rassenwahn der Nazis, der irre Hitler, die Tat eines Einzelnen, der die treubravdoofen Massen verführt habe, waren ursächlich für den Massenmord, für den Bruch mit sämtlichen Menschenrechten. Und: Die Gaskammern und Krematorien von Auschwitz wurden einzig zur Vernichtung der Juden errichtet und betrieben.
Susanne Willems hat ein Buch geschrieben, das den Massenmord nicht bagatellisiert, wohl aber anders interpretiert. „Die Entwicklung des Lagers Auschwitz von einem Ort der Internierung, Folter und Vernichtung polnischer politischer Gefangener zu einem Ort der Versklavung und Vernichtung sowjetischer Kriegsgefangener, der Sinti und Roma und einer Million Juden war bei der Errichtung des Konzentrationslagers im Mai 1940 nicht geplant“, lautet einer ihrer Schlüsselsätze. „Die SS orientierte ihre Entscheidungen über die Funktion und den Ausbau dieses Lager in den folgenden Jahren nicht nur an den eigenen politischen und ökonomischen Optionen, sondern auch an den Interessen ihrer mächtigen Partner: zuerst der I.G. Farbenindustrie AG*, dann der Wehrmacht und schließlich des Rüstungsministeriums.“ Im KZ Auschwitz III, auch Lager Buna-Monowitz genannt, ließ der IG Farben-Konzern von KZ-Häftlingen untere anderem kriegswichtigen synthetischen Kautschuk herstellen.
Ausgangspunkt von Willems‘ Untersuchung – die auch die jüngsten Forschungen des Auslandes verarbeitet – ist die Feststellung des Nürnberger Kriegsverbrechertribunals, dass in Auschwitz „dauernd etwa zweihunderttausend Menschen“ mit der Maßgabe gefangengehalten wurden, um sie „durch in höchstem Maße entkräftende Zwangsarbeit auszubeuten“. Und als diese Menschen ausgezehrt waren, wurden sie „als nutzlos umgebracht“. Ihren Platz nahmen dann Menschen ein, die aus allen okkupierten Staaten nach Auschwitz verbracht wurden. „Es war ein genau ausgearbeitetes System, ein schreckliches laufendes Band des Todes. Die einen wurden umgebracht, um durch andere ersetzt zu werden“, hieß es zutreffend in Nürnberg. Und Willems dazu: „Mindestens 1,1 Millionen Menschen sind im deutschen Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz ermordet worden. Mindestens.“
Die Historikerin beschreibt sachlich die Genesis des Lagers. Polemik ist ihre Sache nicht, die schärfste Form der Kritik an den namentlich genannten Naziverbrechern ist der Verzicht auf deren Vornamen. Sie setzt ganz auf die Überzeugungskraft der Fakten, die nachprüfbar sind. Ideologisch konnotierte Begriffe wie Faschismus, Holocaust oder Shoa kommen bei ihr nicht vor. Denn nicht der Antisemitismus ließ die drei Lager in Auschwitz zu dem werden, was sie waren, sondern die Wirtschaftsunternehmen, die sich im Umfeld des KZ ansiedelten und Arbeitssklaven von dort bezogen. Ein Ingenieur von Siemens kritisierte Ende 1942 die „negative Denkrichtung“, dass das industrielle Zwangsarbeiterregime angeblich nur eine temporäre Erscheinung der Kriegswirtschaft sei. Seine rhetorische Frage reichte in die Zukunft, also über das Ende des Krieges hinaus (wie ja auch das Werk in Monowitz für die Nachkriegsproduktion konzipiert worden war). „Was muß ich tun“, wird der Mann in den Unterlagen der Tagung der Siemens Zentral-Werksverwaltung vom 7./8. Dezember 1942 zitiert, „wenn ich mit einem nur ganz kleinen Stamm von deutschen Ingenieuren, Facharbeitern und Kaufleuten und im übrigen nur mit sprachunkundigen Ungelernten eine möglichst große Fertigung in einem fremden Land – beispielsweise China – aufziehen müßte?“ Die Auschwitzer Arbeitssklaven hießen also im Siemens-Firmensprech „sprachunkundige Ungelernte“. Was für ein Euphemismus.
Im Sommer 1941 hatte die SS-Führung bei ihren Erörterungen der „Lösung der Judenfrage“ den Vorschlag gemacht, „ein Barackenlager für mehrere hunderttausend Juden, die in den Lagerwerkstätten und bei Bedarf auch außerhalb des Lagers arbeiten sollten“, in Auschwitz-Birkenau zu errichten. Am 20. Januar 1942 waren auf der sogenannten Wannseekonferenz die programmatischen Festlegungen zur europaweiten Judenvernichtung getroffen worden. Die im Frühjahr einsetzenden Massendeportationen zielten aber eben nicht auf die sofortige Ermordung der Juden. „Gefragt war ihre Arbeitskraft“, denn, so Willems weiter, „die von der SS erwarteten sowjetischen Kriegsgefangenen“ blieben aus. „Sie waren Monat für Monat bereits in den Lagern der Wehrmacht zu hunderttausenden umgekommen.“ Der Ausbau des Lagers Birkenau ab Mitte August 1942 erfolgte mit der Absicht, „über die zehntausend im Februar 1941 der I.G. Farben und die sechstausend im März 1942 für Produktionen von Rüstungsfirmen im Lagerbereich zugesagten KZ-Arbeiter hinaus kurzfristig fünfzigtausend Arbeitssklaven zur Verfügung zu stellen“, so Willems. „Auschwitz-Birkenau sollte als Drehscheibe im europaweiten Sklavenarbeitsmarkt fungieren. Das setzte die Ausweitung der Massendeportationen der europäischen Juden und die Vernichtung der nicht arbeitsfähigen Deportierten voraus.“
Die Autorin setzt daher in ihrer Publikation andere Akzente als die meisten ihrer Berufskollegen bei der Betrachtung von Auschwitz. Deshalb muss die Geschichte des Vernichtungslagers nicht umgeschrieben werden. Aber anders als andere nennt sie das Kind beim Namen, der meist verschwiegen wird.
Es ist das Verdienst von Susanne Willems, mit diesem Buch den Fokus auf den auch politökonomischen Ursprung aller Verbrechen des Hitlerstaates zu richten. Denn der ist in den letzten Jahren offenkundig ein wenig aus dem Blick geraten.
Susanne Willems: Auschwitz. Terror – Sklavenarbeit – Völkermord. Mit Fotos von Fritz und Frank Schumann, edition ost, Berlin 2025, 288 Seiten, 20,00 Euro.
* – Die I.G. Farben war ein deutscher Chemie- und Pharma-Konzern, der Ende 1925 aus der Fusion von sechs deutschen Unternehmen entstand: Agfa, BASF, Bayer, Hoechst, Chemische Fabrik Griesheim-Elektron und Chemische Fabrik vorm. Weiler-ter Meer. Darunter waren also zwei heutige DAX-Konzerne (BASF, Bayer); Hoechst ging 1999 im französischen Pharmariesen Aventis auf.
Schlagwörter: