Als der französische Schriftsteller und Nobelpreisträger 1926 seinen 60. Geburtstag beging, war dies ein Ereignis von weltweiter Beachtung; außer in Frankeich selbst, wo man ihm seine „Über-dem-Getümmel-Haltung“ während des Großen Krieges noch nicht verziehen hatte. Und so erschien dann das von Georges Duhamel, Maxim Gorki und Stefan Zweig betreute Liber Amicorum mit seinen Gratulationen und Würdigungen aus aller Herren Länder in einem Verlag der deutschsprachigen Schweiz.
Als der so Gefeierte am 30. Dezember 1944 verstarb, nahm kaum jemand Notiz davon, hätte es oft auch gar nicht vermocht. Denn noch tobte der Krieg an allen Fronten. Vielerorts war die kulturelle Infrastruktur zusammengebrochen, das Kommunikationssystem zerstört, das soziale Leben auf die bloße Existenzsicherung reduziert. Rolland hat zwar noch die Libération erlebt, ein paar flüchtige Ehrungen entgegengenommen. Im Grunde galt aber fort, was er – gesundheitlich angegriffen und zuinnerst enttäuscht – schon ein Jahr zuvor in einem Interview von sich und seinesgleichen festgestellt hatte: „Unsere Seelen sind bereits außerhalb dieser Zeit.“
Geblieben war jedoch das geschriebene Wort, die Haltung, das Sittliche, der Appell. Und was hätte dieses geistige Vermächtnis nicht alles bewirken können in dieser hoffnungsvollen Zeit, die jetzt anbrechen würde. Stattdessen war zu erleben, wie auch Rolland binnen kurzem in den Mahlstrom des Kalten Krieges geriet, der sich über Europa zu senken begann. Und da sich die Kombattanten dieses neuen Konflikts im ohnehin schon geteilten Deutschland am dichtesten gegenüberstanden, waren die Reaktionen hier dann auch besonders harsch. Losgelöst aus allen historischen Zusammenhängen wurde Rolland Komplizenschaft mit Moskau vorgeworfen, die stillschweigende Billigung des Stalin’schen Terrors. Damit galt er in der Bundesrepublik, in der Antikommunismus ja gleichsam zur Staatsraison geworden war, bei vielen Menschen als Unperson. Anfang der fünfziger Jahre erschien in München die letzte Nachauflage des früheren Bildungsklassikers „Johann Christof“. Zur gleichen Zeit endete mit Curtius‘ „Französischer Geist im zwanzigsten Jahrhundert“ auch die universitäre Beschäftigung mit Rolland.
Zu denen, die diese Blockade gebrochen oder gar nicht erst respektiert hatten, gehörte eine Frau, die sich in der Folgezeit als wahrer Spiritus Rector für das weltweite Fortbestehen des Rollandisme erweisen sollte: Marie Romain Rolland, die Witwe und Nachlasshüterin des Schriftstellers. Für sie zählte weder Ost noch West, sondern allein die Communauté der Anhänger, Freunde und Verfechter ihres verstorbenen Mannes. Und die Berichte über deren Aktivitäten, die sie regelmäßig veröffentlichte, reichten, nach Ländern geordnet, stets von Allemagne (les deux) bis URSS.
Verständlich, dass sie gerade dem rheinischen Nachbarland, das bei der Rolland-Rezeption einst eine so herausragende Rolle eingenommen hatte, auch für die Zukunft eine besondere Bedeutung beimaß. Sie brauchte Partner, und wahrscheinlich ist es sogar ihrem persönlichen Drängen zu verdanken, dass sich bereits in den frühen fünfziger Jahren eine „Gesellschaft der Freunde Romain Rollands in Deutschland“ mit Sitz in München konstituierte. Dass zu deren erstem Präsidenten der weltweit bekannte Dirigent Wilhelm Furtwängler gewählt wurde, war natürlich nicht ohne Hintersinn. Hierdurch fand sich die neue Gesellschaft nolens volens von vornherein auf die musikalische, schön-geistige, gleichsam unpolitische Seite Rollands festgelegt, was sowohl dem Zeitgeist als auch dem damaligen bildungsbürgerlichen Traditionsverhalten entsprach.
Über die weitere Fortuna dieser Gesellschaft ist wenig bekannt; die Archive schweigen. Eine öffentliche Rolle hat sie, von München einmal abgesehen, wahrscheinlich nie und nirgends gespielt, und ob das Vermächtnis des Schriftstellers – Werk und Wirkung – in ihr gebührend aufgehoben war, bleibt ebenfalls im Dunkeln verborgen. Bis zu jener deutsch-deutschen Zeitenwende von 1989/90, bei der nun, Willy Brandt zufolge, zusammenwachsen würde, was zusammen gehört. Aber das war auch in vorliegendem Fall leichter gesagt als getan, wie sich alsbald erweisen sollte.
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Rolland in der DDR. Zu diesem Thema galt ich wohl zu Recht als kompetenter Ansprechpartner. Ich war mit einer Arbeit über Geschichtlichkeit und Visionen im Humanismusbild Rollands promoviert worden, hatte die Rolland-Editionen des Traditionsverlags Rütten & Loening wissenschaftlich begleitet, stand in persönlichem Kontakt zu Marie Romain Rolland, kannte die Fachvertreter in Ost und West … Trotzdem war ich höchst überrascht, Anfang 1990 eine Einladung zu einem Vortrag in München zu erhalten, ausgesprochen von Marie Hülle-Keeding, damals Generalsekretärin jener Gesellschaft, deren Namenszusatz „in Deutschland“ ja nun auf dem besten Wege zu sein schien, politische Realität zu werden. Es war der erste Versuch eines solchen Zusammenwachsens, und er endete mit einem klaren Fiasko, woran ich allerdings zum Teil selber schuld war.
Ich hatte als Thema „Die Reise nach Innen“ gewählt, jenes zwischen Tagebuch und Memoiren schwebende autobiographische Schlüsselwerk, in dem Rolland den ideengeschichtlichen Wurzeln seiner geistigen Existenz wie auch seines praktischen Handelns nachspürte. Dabei aber nicht bedacht, dass meine Zuhörer die Texte und Fragmente des Buches kaum kennen konnten, ja wahrscheinlich noch nie davon gehört hatten. Schon nach den ersten Sätzen merkte ich, dass sie nicht wussten, wovon ich sprach, es vielleicht auch gar nicht wissen wollten, es als Bedrohung empfanden, wenn ich solche tabuisierten Worte wie Revolution oder gar Sozialismus verwendete. Jedenfalls schienen sie erleichtert zu sein, als man zum geselligen Beisammensein im Bierkeller übergehen konnte. Die Generalsekretärin reagierte indessen auf ihre Weise, indem sie die Mitglieder der Gesellschaft vor östlicher Unterwanderung warnte.
Hierzu passt eine kaum bekannte Episode, die sich ein paar Jahre später in der sächsischen Landeshauptstadt zutrug. Dort gab es seit dem Jubiläumsjahr 1966 – erst- und einmalig in Deutschland – ein Romain-Rolland-Gymnasium, und weil der Name von der DDR verliehen worden war, wurde er nach der Wende erst einmal aberkannt. Das wurde nach einer „Überprüfung“ zwar wieder rückgängig gemacht; aber als sich die Schule dann – interessanterweise unter einem westdeutschen Direktor – zu einem kulturellen Ort zu entwickeln begann, der die Bedeutung und die Ansprüche ihres Namensgebers widerspiegeln sollte, wurde das schnell und nachhaltig gestoppt. Es war, als würden sich die Verantwortlichen des wieder auferstandenen Schriftstellernamens schämen.
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Noch ein paar Jahre später und erneut eine überraschende Einladung, diesmal zu einem Romain Rolland gewidmeten Studientag, der am 11. November 2017 an der Universität Regensburg stattfinden sollte, gezeichnet von Marina Ortrud M. Hertrampf, für mich zunächst eine Unbekannte. Erst später erinnerte ich mich, den Namen doch schon einmal gehört zu haben, und zwar als Verfasserin einer Studie über „Romain Rollands literarische Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg“, die bereits 2014 in der traditionsreichen Zeitschrift lendemains erschienen war. Sie gehörte also, auch durch andere Publikationen belegt, schon seit längerem zur Communauté.
Entsprechend war die erklärte Zielsetzung des Studientages: mit neuen Ansätzen und Perspektiven dazu beizutragen, eine in Bezug auf Romain Rolland seit Jahrzehnten zu beobachtende Forschungslücke zu schließen, was aber auch hieß, den seit Jahrzehnten verfemten Schriftsteller, sein Beispiel, sein Wort, sein Urteil zurückzuholen in die Aktualität, und zwar nicht irgendwie, sondern ganz konkret. Der 11. November war nämlich der 99. Jahrestag des Waffenstillstands von Compiègne, der zwar den ersten Weltkrieg beendet, zugleich aber auch jene unheilvolle Nachkriegsentwicklung eingeleitet hatte, deren Schattenseiten der deutschen und europäischen Geschichte mitunter bis heute anhaften. Und einem solchen Gedenktag war nur ein Themenpaar angemessen: „Deutschland und Frankreich“ beziehungsweise „Krieg und Frieden in Europa“.
Die Rechnung ging auf. Nach dem epochalen Kolloquium von Clamecy („Permanence et pluralité de Romain Rolland“, 1994), das unter der Schirmherrschaft des französischen Präsidenten gestanden hatte, war dies der zweite erfolgreiche (wenn auch bescheidenere) Schritt auf dem Weg zur Wiederbelebung und Neubewertung des Schriftstellers. Der Textband („Romain Rolland, der Erste Weltkrieg und die deutschsprachigen Länder“, Frank und Timme 2018) umfaßt 13 Beiträge zum Gegenstand und einen, der davon abweicht, den meinigen. Das hat damit zu tun, dass ich mich – mit 87 Jahren – nicht auf eine Teilnahme in Regensburg vorbereitet hatte, dann aber doch gedrängt wurde, präsent zu sein. Also reichte ich einen Text ein, den ich schon einmal in der Berliner Goethegesellschaft vorgestellt hatte: „Stirb und werde! Zum Goethe-Bild Romain Rollands“. Dieser eröffnet nun den Band als eine Art Scharnier zwischen den Zeiten, wohl aber auch als späte Hommage für den Verfasser dieser Zeilen und Anerkennung seiner Verdienste um die Bewahrung des Rolland’schen Erbes in der DDR.
Die weitere Wegstrecke war erst einmal dadurch gekennzeichnet, dass Marina Ortrud M. Hertrampf 2020 als Professorin für Romanische Philologie an die Universität Passau berufen wurde. Damit hatte sie jetzt den institutionellen Rückhalt, den sie benötigte, um ihr – nennen wir es mal so – Rolland-Projekt voranzutreiben. Dazu gehört im übrigen auch, dass sie seit 2018 Präsidentin der „Gesellschaft der Freunde Romain Rollands in Deutschland“ ist und sich bemüht, diese unter dem neuen Namen „Association Romain Rolland“ auch international wieder aufzuwerten.
Der nächste, für November 2021 in Passau geplante und nunmehr Kolloquium genannte Studientag zum Thema „Frieden! Pazifistische Gedanken im Umkreis von Romain Rolland“ fiel als Hörerlebnis zwar den Corona-Maßnahmen zum Opfer; doch können die ungehaltenen Beiträge natürlich nachgelesen werden: in Band 1 einer von Hertrampf herausgegebenen neuen Schriftenreihe „Romain Rolland Studien / Etudes Romain Rolland“ (AVM, München 2022). Der Band enthält neben „Einleitenden Gedanken zu Romain Rollands Pazifismus und seinem Einfluß auf Weggefährten und nachfolgende Generationen“ der Herausgeberin neun themenbezogene Texte sowie eine Hommage an den 1933 vor den Nazis aus Deutschland geflohenen jüdischen Fotografen Fred Stein, dem 1936 in Paris der Schnappschuss gelungen war, der nunmehr das Cover schmückt.
Unter den heutigen Bedingungen eine derartige, auf inhaltliche und zeitliche Kontinuität angelegte Schriftenreihe ins Leben zu rufen, war zweifellos ein Wagnis. Gelingen kann es auf Dauer nur, weil Romain Rolland, wie Hertrampf in ihrem „Zum Auftakt“ feststellt, „seit einigen Jahren in den Fokus von immer mehr Forschenden rückt“, was sich in der Folgezeit eindrucksvoll zeigen sollte.
Band 2 der „Romain Rolland Studien / Etudes Romain Rolland“ (2023) – erneut mit einem Cover-Foto von Fred Stein – vereint unter dem Titel „Romain Rolland: un écrivain mondial?“ zehn Wissenschaftler aus Frankreich, Deutschland, Japan, China und der Tschechischen Republik. Ihre Beiträge kreisen – mit unterschiedlichen Herangehensweisen – um die alte und immer wieder neue Frage, ob Rolland nun ein französischer, europäischer oder eben mondialer Schriftsteller gewesen sei. Die Antwort hierauf ist ziemlich einhellig: er war es alles in allem und zwar nicht aufeinanderfolgend, sondern von Anbeginn an gleichzeitig. Nehmen wir als Beleg hierfür nur die in der „Reise nach Innen“ erzählten „Drei Blitze“, die ihn schon mit 16 und 17 Jahren durchzuckt und dann zeitlebens geprägt haben: Voltaire stellvertretend für das geistige Frankreich, Tolstoi für das moralische Europa, Spinoza für die Vision einer panhumanistischen Welt. Dass das bei genauerem Hinsehen dann doch noch ein bisschen komplexer war, macht die „Introduction“ in den Band von Guillaume Bridet und Marina Ortrud M. Hertrampf deutlich.
Dieselben zeichnen auch für das folgende Großereignis im Rolland-Gedenken verantwortlich: das Internationale Passauer Kolloquium (10./11. November 2023), dessen Beiträge sowohl in Frankreich als auch unter dem Titel „L’Europe dans la revue Europe (1923-2023)“ in Band 3 der „Romain Rolland Studien / Etudes Romain Rolland“ (2024) veröffentlicht wurden. Anlass zu der Veranstaltung war der 100. Jahrestag dieser noch heute existierenden Zeitschrift, zu deren Begründern Romain Rolland gehört hatte. 1923, fünf Jahre nach Ende des Großen Krieges, zehn Jahre vor dem Machtantritt der Nazis in Deutschland: Der Kontinent erneut in der Krise, politisch instabil, in seiner moralischen Integrität gefährdet. War der „Traum Europa“ schon wieder ausgeträumt? Die meisten Teilnehmer des Kolloquiums sahen das eher nicht so. Und so blieb es auch fast unbeachtet, dass Rolland selber den Glauben an die Erneuerungs- und Friedensfähigkeit Europas zu jener Zeit schon weitgehend verloren hatte.
Mit der Folge, dass er Zukünftiges nun auch vermehrt jenseits von dessen Grenzen zu suchen begann und zu erkennen glaubte, vornehmlich in Indien. Er korrespondierte und traf sich mit Rabindranath Tagore, mit Mahatma Gandhi, veröffentlichte 1924 eine Biographie jener Symbolgestalt des gewaltlosen Widerstands und beschäftigte sich mit den Lehren der hinduistischen Religionsführer Ramakrishna und Vivekananda, denen er 1929 bzw. 1930 ausführliche Studien widmete. Vielleicht könnte man dieses Thema zum Gegenstand eines nächsten Passauer Kolloquiums machen. Es würde auch gut zur augenblicklichen Weltlage passen.
Schlagwörter: Association Romain Rolland, Frankreich, Gerhard Schewe, literarisches Erbe, Marie Romain Rolland, Marina Ortrud M. Hertrampf, Romain Rolland