27. Jahrgang | Nummer 17 | 12. August 2024

Größe unterm Pferdeschwanz

von Klaus Höpcke

Die Standbilder der zwei wirklich Großen auf dem vielfigurigen Denkmal des Bildhauers Christian Daniel Rauch, das Anfang Dezember 1980 in der Straße Unter den Linden wieder aufgestellt worden ist, findet man hinten, unterm Schwanz des Pferdes, auf dem Friedrich II. sitzt.

Schon dieser Platz ist einen eigenen Kommentar wert. Wer da alles für würdig erachtet wurde, an der Vorderfront zu stehen oder an den Seiten sich zu drängen: August Wilhelm Prinz von Preußen sowie die von Lestwitz, von Prittwitz, von der Heyde, von Huelsen, flankiert von Heinrich Prinz von Preußen und Ferdinand Herzog von Braunschweig hoch zu Roß; weiter: von Winterfeldt, von Dieskau, von Tauentzien, Eugen Prinz von Würtemberg, von Kleist, von Wartemberg, von der Goltz, Leopold Erbprinz von Anhalt-Dessau, von Geßler, Wedell, Leopold Fürst von Anhalt-Dessau, Graf von Schwerin – auch sie flankiert von zweien zu Rosse: von Zieten und von Seydlitz.

Lauter Kleine in der Geschichte der Menschheit. Jahrzehnte später schon vergessen – dem vor uns stehenden bronzenen Erinnerungsversuch zum Trotz. Die zwei großartigen Wegebahner menschlichen Fortschritts aber, deren Werk Jahrhunderte schon überdauert hat und weitere Jahrhunderte überdauern wird – Philosoph der eine, Dichter Dramatiker und Essayist der andere –, sie erhielten hinten ein Eckchen. Ob der Auftraggeber plump genug war, es so zu wollen? Oder ob Skulptor Rauch dem Auftraggeber ein intelligentes Schnippchen schlug, indem er per Placierung ein Bild von der wirklichen Stellung geistiger Größe und Größen in Friedrichs Staat gab? Wie dem auch sei, jedenfalls stehen an besagtem Orte keine Geringeren als Immanuel Kant und Gotthold Ephraim Lessing.

Wie stehen sie da? Lessing, durch den Bruchteil einer Drehung von anderen Figuren auf diesem Teil des Frieses abgewandt – nämlich von den Herren Schlabrendorff, C. H. Graun, Graf Finck von Finckenstein und Graf von Carmer –, den Blick aufmerksam, ja wägend, prüfend auf Kant gerichtet; die Hände verschränkt. Kant – redend, in seiner Linken Stock und Hut, mit einer Geste der Rechten sein Reden lebhaft begleitend, ja mit erhobenen Fingern dem Gesagten vielleicht gar Nachdruck verleihend gegenüber Lessings kritischem Blick.

Wann mag es gewesen sein, fragt man sich unwillkürlich, daß die beiden so beieinander standen? Und was mag es gewesen sein, das sie besprachen?

Das Hauptwerk des Älteren von ihnen, des 1724 geborenen Im­manuel Kant, die „Kritik der reinen Vernunft“, kam erst 1781 heraus, in dem Jahr, in welchem der fünf Jahre jüngere, 1729 geborene Gotthold Ephraim Lessing im Alter von 52 Jahren gestorben ist. So mag es sich erklären, daß Lessing und Kant sich im wirklichen Leben von Angesicht zu Angesicht nicht begegnet sind und daß es auch keinen Briefwechsel zwischen ihnen gab. Die geistigen Leistungen beider aber korrespondieren bis auf den heutigen Tag so stark miteinander, daß Rauchs Bild-Erfindung voll und ganz gerechtfertigt erscheint.

„Mit diesem Buche“, schrieb Heinrich Heine über Kants „Kritik der reinen Vernunft“, „… beginnt eine geistige Revolution in Deutschland, die mit der materiellen Revolution in Frankreich die sonderbarsten Analogien bildet … Sie entwickelt sich mit denselben Phasen, und zwischen beiden herrscht der merkwürdigste Parallelismus. Auf beiden Seiten des Rheines sehen wir denselben Bruch mit der Vergangenheit, der Tradition wird alle Ehrfurcht aufgekündigt; wie hier in Frankreich jedes Recht, so muß dort in Deutschland jeder Gedanke sich justifizieren, und wie hier das Königtum, der Schlußstein der alten sozialen Ordnung, so stürzt dort der Deismus, der Schlußstein des alten geistigen Regimes.“ – Zu den bleibenden Leistungen Kants, die „seinen Namen unauslöschlich in die Wis­senschaftsgeschichte eingetragen haben“ (Manfred Buhr), gehören Einsichten wie die entwicklungsgeschichtliche Theorie von der Entstehung des Planetensystems, die Idee vom Kampf entgegengesetzter Kräfte, die Einsicht in die Bedeutung der negativen Größen, die Herausarbeitung des relativen Charakters von Ruhe und Bewegung.

Von ebenbürtigem Rang waren die Wandlungen im geistigen Leben, die Lessing hervorrief. Da war das Streben, moralische Fragen in eigener Verantwortung zu entscheiden – als neue, feudalen Vorstellungen entgegengesetzte sittliche Auffassung, wie sie in „Miss Sara Sampson“ (1755) Ausdruck fand. Oder man denke an „Minna von Barnhelm“ (1767), die Komödie, in der, mit Goethe zu sprechen, die Anmut und Liebenswürdigkeit der Sächsinnen den Starrsinn der Preußen überwindet; das Stück wurde und wird zu Recht als ein scharfer Angriff gegen den Despotismus im Staatswesen unter Friedrich aufgefaßt. Das Gefühl, daß die Zustände feudaler Tyrannei beseitigt werden müssen, stärkte Lessing bekanntlich am nachhaltigsten, indem er 1772 die Tragödie des Odoardo Galotti und seiner Tochter Emilia auf die Bühne brachte, jenes Stück, in dem Odoardo aus Ohnmacht gegenüber dem Fürsten allein den Ausweg sieht, seine Tochter zu töten, um ihre Ehre zu retten. Und schließlich das letzte Werk (man zögert, es Alterswerk zu nennen; der Mann, der es schrieb, war fünfzig Jahre alt): „Nathan der Weise“ (1779), das dramatische Gedicht gegen religiösen Fanatismus und nationalen Dünkel.

Dies und vieles weitere ist mit zu bedenken, wenn wir hinter dem überlebensgroß gegossenen reitenden König und eine Sockelstufe unter ihm Kant und Lessing in ungefähr Menschengröße stehen sehen und wenn wir erwägen, wie wir ihnen anläßlich eines Geburts- oder Todestages vielleicht einen Kranz zu Füßen legen wollen. Ich war im Februar dieses Jahres drauf und dran, das zu versuchen, bis ich merkte, daß es ohne Gabelstapler schwer zu machen sein wird; und wie rar die sind, das weiß jeder.

Zu dem „vielen weiteren“, was im Verweilen bei Kant und Lessing Unter den Linden mit zu bedenken ist, gehören selbstverständlich so wegweisende politische Schriften wie Kants Traktat zum ewigen Frieden (1795) und ästhetische Arbeiten wie Lessings literatur- und kunstkritische Polemiken „Briefe, die neueste Literatur betreffend“ (1759/65), „Laokoon oder die Grenzen der Malerei und Poesie“ (1766), und „Hamburgische Dramaturgie“ (1767/69), in denen Grundsätze; erarbeitet wurden, die ihre Gültigkeit bis heute bewahrt haben.

Dazu gehören aber auch ein paar Anhaltspunkte, die das Verhältnis zwischen den beiden Großen – und hier insbesondere Lessing – und dem Friedrich beleuchten, der sich groß nur im Vergleich zu den sonstigen Wilhelms und Friedrichs ausnahm, die in diesem Land einst das Zepter führten, sowie im Vergleich zu den meisten Potentaten seiner Zeit. Ganz knapp ein paar Belege: Bei dem Mann auf dem Pferd handelt es sich um jene Person, die, als ihr Lessings Wahl in die Preußische Akademie der Wissenschaften im Jahre 1760 gemeldet wurde, „ungnädig“ reagierte. Und als Friedrich 1780 eine Schrift „Über die deutsche Literatur“ publizierte, nahm er sich heraus, Lessing – wie zum Beispiel auch Klopstock – nicht einmal zu erwähnen. Näheres dazu ist bei Ingrid Mittenzwei nachzulesen („Friedrich II. von Preußen. Eine Biographie“, S. 197 ff.). Kant, der sich dazu hatte hinreißen lassen, die Aufklärung als „Zeitalter Friedrichs des Großen“ zu apostrophieren, wurde von Friedrichs Nachfahren 1794 per „Kabinettsbefehl“ verboten, manche „Haupt- und Grundlehren der hl. Schrift und des Christentums“ kritisch zu analysieren; er enthielt sich danach aller öffentlichen Vorträge über die Religion.

Was Äußerungen aus Lessings Sicht zu den wechselseitigen Beziehungen mit dem Monarchen betrifft, so empfiehlt es sich, den ersten Band der soeben eröffneten neuen zwölfbändigen Ausgabe seiner gesammelten Werke und Briefe aufzuschlagen und sich dort in den Anhang zu den Oden zu vertiefen. Da findet man – in dem Text „AN MÄCEN“, S. 268 – Sätze wie diesen: „Ein König mag immerhin über mich herrschen; er sei mächtiger, aber besser dünke er sich nicht. Er kann mir keine so starken Gnadengelder geben, daß ich sie für Wert halten sollte, Niederträchtigkeiten darum zu begehen.“ Eine Seite weiter lesen wir, was Lessing Gleim antwortete, als der ihn aufgefordert hatte, Friedrich zu verherrlichen: „Was hält Dich noch? Singe ihn, Deinen König!“ Und noch eine Seite weiter: „Ich will unterdes mit äsopischer Schüchternheit, ein Freund der Tiere, stillere Weisheit lehren.“

Die Weisheit, die Kant und Lessing lehrten, liegt vor allem auch in der Art, wie sie selbst gelebt und gedacht, gearbeitet und gekämpft haben.

„Ehrlichkeit und Mannhaftigkeit, eine unersättliche Begierde des Wissens“ rühmte Franz Mehring Lessing nach und stellte fest, was immer wieder an seine Schriften fessele, sei der Charakter dessen, der sie schrieb. Unnachsichtig arbeitete er heraus, wie Lessings Charakter „im schroffsten Gegensatze steht zu dem Charakter der deutschen Bourgeoisie“ seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts, als Mehrings „Lessing-Legende“ erschien. Und hier drei der Leitsätze fürs Leben, die Lessing uns hinterließ, Leitsätze, die gerade für die Aufhebung progressiven bürgerlichen Humanismus im realen Humanismus der sozialistischen Gesellschaftsordnung hochaktuell sind und von dauernd steigender Bedeutung: „Die edelste Beschäftigung des Menschen ist der Mensch.“ – „Lange leben ist nicht viel leben, viel denken ist viel leben.“ – „Der größte Fehler, den man bei der Erziehung zu begehen pflegt, ist dieser, daß man die Jugend nicht zum eigenen Nachdenken gewöhnt.“

Immanuel Kant verdanken wir den oft beschworenen „kategorischen Imperativ“. Ihn zu befolgen wird unter den neuen Verhältnissen von Mensch und Gesellschaft im Sozialismus für viele in einer Weise möglich, die vorsozialistischen Zeiten unbekannt war. Besagte Forderung, die Kant das „Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft“ nannte und die er, weil die Forderung uneingeschränkt gelte und vorbehaltlos einzuhalten sei, eben auch als „kategorischen Imperativ“, als unbedingtes Gebot bezeichnete, lautet bekanntlich: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“

Die Freude darüber, daß wir durch die Wiederaufstellung des Rauchschen Reiterstandbildes mit F. II das architektonische Ensemble um Palais, Oper, „Kommode“, Humboldt-Universität, Mahnmal für die Opfer des Faschismus und Militarismus und Museum für Deutsche Geschichte abgerundet haben, teile ich; noch mehr aber freue ich mich darüber, daß wir auf solche Weise im Zentrum Berlins ein Kant-Lessing-Denkmal haben.

 

Weltbühne, 39/1981

Die Schreibweise des Originals wurde beibehalten.

Klaus Höpcke, 2023 verstorben, war stellvertretender Minister für Kultur der DDR. Leider ist es der Redaktion nicht gelungen, Inhaber der Rechte an Höpckes Wb-Publikationen ausfindig zu machen. Wir bitten daher darum, sich gegebenenfalls mit uns in Verbindung zu setzen.

 

PS – zu diesem Beitrag veröffentlichte die Weltbühne 51/1981 folgenden Leserbrief:

Liebe Weltbühne!

[…]

Die Tatsache, daß die „zwei wirklich Großen“ (Kant und Lessing) auf diesem Denkmal sich unterm Schwanz des Pferdes befinden, veranlaßte schon vor rund 80 Jahren den jüngsten Bruder Georg Büchners, Alexander Büchner, zu folgenden Be­trachtungen: „Werfen wir jetzt zum Schluß einen raschen Blick auf die jeweilige Lebensstellung der als Dichter und Schriftsteller berühmt gewordenen Männer in Deutschland und Frankreich, so fällt dieser Vergleich wesentlich zum Nachteil der Deutschen aus. Männer wie Michelet, Quinet, Victor Hugo, Jules Simon und so viele andere sind durch den kühnen Schwung ihrer Einbildungskraft, ihren glänzenden Styl, ihr logisches Denken und ihre gewinnende Art der Darstellung in alle Kreise des Volkes gedrungen und dadurch eine wirkliche Macht im Staate geworden. Die Pforten der Akademie öffneten sich vor ihnen und selbst ihre Gegner erkannten ihre Verdienste an. Ehre und Reichtum war ihr Los.

Der deutsche Schriftsteller hingegen blieb als solcher vom Staate und der Gesellschaft unbeachtet.

Ein jüngerer Freund, den ich aus guten Gründen hier nicht nennen will, machte mich eines Tages darauf aufmerksam, daß in der berühmten Broncegruppe Friedrichs II. unter den Linden die geistigen Heroen jener Zeil, wie Kant, nur ein bescheidenes Plätzchen hinter dem Schweif des Pferdes gefunden haben, während Federbüsche und Epauletten all überall den ersten Rang einnehmen.“

Dieses Zitat fand ich in einem Buch von Ludwig Büchner (1824-1899, Arzt, Naturwissenschaftler und philosophischer Schriftsteller und ebenfalls ein Bruder Georg Büchners): „Im Dienste der Wahrheit. Ausgewählte Aufsätze aus Natur und Wissenschaft“. Gießen 1900.

Erika Schwarz, Schwerin