von Hermann-Peter Eberlein
Unter der Überschrift »Schluß mit dem Säkularismus« hat Stefan Weidner in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung die These vertreten, die Trennung von Glaube und Politik sei nicht mehr zeitgemäß. Die Privatisierung des Religiösen in unserer Gesellschaft – aus den Erfahrungen des Dreißigjährigen Krieges geboren und von Friedrich Schleiermacher mit seiner Reduktion von Religion auf Anschauung und Gefühl exemplarisch auf den Punkt gebracht – behindere den fairen und offenen Wettstreit der Kulturen und Glaubensüberzeugungen im politischen Raum. Zudem habe die Privatisierung des Religiösen zu einer Banalisierung unseres Seelenlebens geführt: Da wir nicht mehr geübt seien, unsere Glaubensvorstellungen öffentlich zur Diskussion zu stellen, hätten wir auch verlernt, uns selbst über sie Rechenschaft abzulegen. Gegenüber einem solch kraftlosen Bewahren des Status quo wirke jede, auch die lächerlichste, politisch-religiöse Vision geradezu attraktiv. Das Thema ist brisant: Mit ihm steht das Selbstverständnis unserer Gesellschaft zur Debatte. Es wird an Aktualität gewinnen, je mehr sich die Erosion der beiden großen Volkskirchen beschleunigt und andere Gruppen – Konfessionslose und Muslime etwa, aber auch protestantische Freikirchen – an gesellschaftlicher Relevanz gewinnen.
Weidners Beobachtungen sind zweifellos richtig. Ein öffentlicher Diskurs über das, was wir glauben können und hoffen dürfen, täte unserer Gesellschaft gut. Nur bleibt Weidner im Negativen stecken. Der Raum, in dem ein solcher Diskurs stattfinden kann, aber muß positiv definiert, das heißt abgesteckt und begrenzt werden – und das kann in einer religiös pluralen Gesellschaft nur durch eine neutrale Instanz geschehen, die das Durchsetzungsvermögen hat, Grenzüberschreitungen zu ahnden: den Staat. Religiös begründete Normen einzelner Religionsgruppen können nicht zur Norm der gesamten Gesellschaft gemacht werden, ohne daß die Gesellschaft als ganze zerfällt oder es zum offenen Kampf kommt. Darum stelle ich die Gegenthese zu Weidner auf: Um das friedliche Überleben einer religiös heterogenen Gesellschaft, ja der ganzen Völkergemeinschaft zu gewährleisten, müssen Religion und Politik scharf getrennt bleiben oder – wo sie es noch nicht sind – werden. Also nicht Schluß mit dem, sondern Vollendung des Säkularismus.
Womit wir beim Sonderfall Deutschland wären. Die Bundesrepublik kennt nämlich – anders als etwa das laizistische Frankreich – eben keine strenge Trennung von Religion und Politik. Die beiden etablierten Großkirchen haben als Körperschaften öffentlichen Rechtes durch Konkordat und Staatskirchenverträge abgesicherte Privilegien und einen erheblichen Einfluß in der Gesellschaft. Der reicht von der Mitsprache in den Rundfunkräten über die Militärseelsorger als Monopolisten des Ethik-Unterrichtes in der Bundeswehr und die nach dem Subsidiaritätsprinzip in kirchlicher Hand befindlichen öffentlichen Einrichtungen bis zum Religionsunterricht. Dafür hat sich der Staat die Kontrolle bei wichtigen Finanz- und Personalentscheidungen ausbedungen; da zudem Religionslehrer und Geistliche ganz überwiegend an staatlichen Hochschulen (und auf staatliche Kosten) ausgebildet werden und der Staat im Einvernehmen mit den Kirchen die Lehrpläne für den Religionsunterricht erstellt, kontrolliert er auch wesentlich die Inhalte.
Bei diesem System sind bisher beide Seiten auf ihre Kosten gekommen: Es hat sie stabilisiert. Die Normen der Volkskirchen sind im großen und ganzen auch die des Mainstreams der Gesellschaft. Sicher, es gibt einige Reibungspunkte bei den Fragen Euthanasie, Gentechnik und Abtreibung. Gelegentlich eckt der Papst an – aber in der Frage der Sonntagsheiligung ziehen Kirchen und Gewerkschaften an einem Strang.
Ob eine Schuldnerberatungsstelle in kommunaler oder kirchlicher Trägerschaft ist, merkt man in der Regel nicht an ihrer Arbeit, sondern am Briefkopf. Seelsorge ist für viele therapeutisch hervorragend ausgebildete Theologen längst nichts anderes als Psychotherapie im kirchlichen Kontext. Pfarrer und Religionslehrerinnen vermitteln im Religionsunterricht oft nur den vierten Aufguß dessen, was sie an historisch-kritischem Bibelverständnis an der Universität gelernt haben. Und wer wollte bestreiten, daß es zur kulturellen Bildung gehört, die großen biblischen Erzählungen zu kennen – versteht man doch sonst weder Rembrandts Bilder noch Bachs Kantaten.
Insofern ist der Berliner Streit um den Religionsunterricht eher prinzipieller Natur – in der Praxis geht vieles durch- und miteinander, was ideologisch nicht zusammenzupassen scheint. Ich kenne muslimische Mittelschichtskinder, die fröhlich den evangelischen Religionsunterricht besuchen. Pfarrer erarbeiten Unterrichtseinheiten zur Suchtproblematik, die sich genauso auch in einem neutralen Ethikunterricht vermitteln ließen, oder lesen mit ihrem Oberstufenkurs Feuerbach und Marx. Fundamentalisten oder Kreationisten haben – anders als in den USA – an unseren Schulen kaum eine Chance. Damit ist die gesamte Gesellschaft in dieser Hinsicht wenig anfällig.
Doch das stabile System hat auch seine Kehrseiten. Für die Kirchen zunächst: Sie sind zahnlos geworden und angepaßt. Die neueste Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland zur Wirtschaftspolitik (»Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive«) beweist das. Zugleich wird in den Kirchen das fatale Bewußtsein geschürt, man habe immer schon auf derrichtigen Seite, der von Demokratie, Freiheit und Toleranz, gestanden. Die Bösen sind immer die anderen: die Sekten, die Muslime, die Atheisten, denen man gerne eine Neigung zum Totalitarismus unterstellt. Die Kirchen sind konturlos geworden und zugleich anmaßend und arrogant.
Die andere Kehrseite bezieht sich auf die gesamte Gesellschaft. Der Privilegierung der einen nämlich entspricht eine Ausgrenzung der anderen: eine Ungerechtigkeit, die sich rächen wird. Die politisch-religiösen Visionen, die unbemerkt von der breiteren Öffentlichkeit diskutiert, geglaubt, verbreitet werden, werden irgendwann zur Realität drängen. Die Ausgegrenzten werden ihren Platz in der Öffentlichkeit einfordern – der Bau großer und weithin sichtbarer Moscheen ist ein Beispiel. In Duisburg ging es gut, in Köln spaltet der Plan die Stadt. Eine politische Vision, die nicht im politischen Raum diskutiert werden kann, weil dieser Raum durch Monopolisten besetzt ist, birgt Sprengkraft.
Darum müssen die Privilegien der beiden Großkirchen langsam, aber stetig abgebaut werden. Das wird angesichts der rechtlichen Verpflichtungen lange dauern. Am Ende aber stünde ein vollendeter Säkularismus: eine Gesellschaft, in der sich der Staat darauf beschränkt, die Arena für den öffentlichen Diskurs über religiöse und politische Visionen freizugeben und dafür zu sorgen, daß er fair und ohne Gewalt verläuft. Das hieße konkret: Alle Religionsgemeinschaften erhielten denselben Vereinsstatus; der Staat mischte sich in ihre inneren Angelegenheiten nicht ein. An die Stelle des konfessionellen Religionsunterrichtes an staatlichen Schulen, wie er in den meisten Bundesländern praktiziert wird, träte ein verpflichtender Ethikunterricht, der freilich nicht per se atheistisch sein, sondern keine Scheu vor religiösen Argumenten jeglicher Couleur haben dürfte. Die Religionswissenschaften in einem sehr weiten Sinne hätten an staatlichen Hochschulen einen wichtigen Platz an den kulturwissenschaftlichen Fachbereichen; konfessionelle Theologie wäre eine Sache kirchlicher Hochschulen.
Die grundlegenden Normen der Gesellschaft: Demokratie und Menschenrechte, stünden – entsprechend den internationalen Verpflichtungen, die beinahe alle Staaten der Weltgemeinschaft eingegangen sind – nicht zur Disposition; jedes Antasten würde streng geahndet. Innerhalb dieser Grenzen aber wäre alles möglich. Die Religionsgemeinschaften träten in eine ehrliche Konkurrenz zueinander und zu den Propagandisten areligiöser Sinnentwürfe; die Anzahl der Privatschulen würde vermutlich genauso explodieren wie die religiöser Fernsehsender. Die innere Kraft der großen Kirchen, so vermute ich, würde bei dann deutlich geringeren Mitgliederzahlen sogar wachsen. Das gesellschaftliche und politische System wäre offener, gerechter und ehrlicher.
Säkularismus ade? Nein, danke!
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