27. Jahrgang | Nummer 8 | 8. April 2024

Ballettschule in freiem Fall

von Konrad Hirsch

Der Absturz in die Mittelmäßigkeit, wie Torben Ibs am 26. März dieses Jahres auf tanznetz.de (einem Internetportal für den professionellen Bühnentanz) in seinem Beitrag prophezeit, droht nicht. Die Staatliche Ballettschule Berlin befindet sich in freiem Fall.

Nach Denunzierungen, absurder Skandalberichterstattung in den Medien und einem erschreckend inkompetenten Umgang der Verantwortlichen bei der Bewältigung einer angeblichen Krise hat die Schule in den letzten Jahren ihre Alleinstellungsmerkmale und ihr internationales Renommee verloren.

Das ist tragisch, da sich diese Institution bis vor vier Jahren hervorragend entwickelte: 2010 wurde ein Neubau mit modernen Tanzsälen und einer Fläche von 2500 Quadratmetern eröffnet. Von „einer guten Investition des Landes Berlin in die Zukunft“ war die Rede. An dieser Schule konnte man Abitur machen, eine Berufsausbildung als Tänzer/in abschließen und gleichzeitig mit einem Hochschulzeugnis einen Bachelor of Arts erhalten. Dieses Angebot war weltweit einmalig. Es lockte über 300 Schülerinnen und Schüler aus 27 Nationen nach Berlin. Regelmäßig war die Staatliche Ballettschule Berlin das berufliche Gymnasium mit den besten Abiturzeugnissen in der Bundeshauptstadt.

Europaweit war die Staatliche Ballettschule die einzige Ausbildungsinstitution mit eigener Juniorcompagnie, weil „Bühnenerfahrung der entscheidende Schlüssel für einen erfolgreichen Berufseinstieg in den Bühnentanz ist“, sagte die damals amtierende Bildungssenatorin im März 2017 in einem Statement. „Die Tänzerinnen und Tänzer werden auf höchstem Niveau ihr Können bundesweit und international präsentieren und stehen damit auch repräsentativ für die Kreativmetropole Berlin“, betonte die Senatorin einst stolz, wenn sie über das inzwischen abgewickelte Landesjugendballett sprach.

Die Staatliche Ballettschule Berlin zählte zu den „Big five“ der wichtigsten Ausbildungsstätten für Tanz in Deutschland und rangierte im weltweiten Vergleich an der Spitze. Wer hier ausgebildet wurde, war auf das anspruchsvolle Leben als Tänzer auf internationalem Niveau vorbereitet, hatte Partnerschaft, Zugehörigkeit und Leistungsbereitschaft erfahren, empfand Gegenwind, Konkurrenzverhalten und Konfliktsituationen als motivierende Herausforderung.

Was dann ab Januar 2020 geschah, bezeichnet die Journalistin Birgit Walter nach umfassender Recherche als Werk von Denunziantinnen, die ein anonymes Dossier über angebliche Missstände in der Staatlichen Ballettschule Berlin in Umlauf gebracht hatten. Birgit Walters ausführliche „Bilanz eines Skandals“ war am 31. Januar 2024 in der Berliner Zeitung zu lesen. Sie beschrieb dort, dass diesen Skandal, den Vertreter anderer Medien in verantwortungsloser Gier hochputschten, in Wahrheit nicht die Ballettschule, sondern die Politik lieferte. Auch das Blättchen, Hefte 10/2020 und 18/2021, berichtete bereits über diesen Fall.

Übereilt und ohne nachzudenken – wie es scheint –, kündigten beflissene Bildungspolitiker Anfang 2020 von höchster Ebene aus den Künstlerischen Leiter Gregor Seyffert sowie Schulleiter Ralf Stabel – ihm sogar mehrmals – fristlos, zerstörten damit die Karrieren eines erfahrenen und erfolgreichen Leitungsduos und das engagierte Wirken der beiden, die Eliteschule zu einer herausragenden Ausbildungsinstitution für professionellen künstlerischen Nachwuchs in der Bundeshauptstadt auch auf internationaler Ebene bekannt zu machen. Hausverbote wurden erteilt. Monatelang ließ die Bildungsverwaltung nach Beweisen für die Kündigungen fahnden, bildete Kommissionen, die Verfehlungen ans Licht fördern sollten. Schüler, Lehrer, Absolventen und Eltern wurden aufgerufen, Negatives zu berichten, gern auch anonym. An positiven Berichten war man hingegen nicht interessiert.

Trotz intensiver Suche wurden keine Taten, keine Täter oder Opfer gefunden. Die für Unsummen erstellten Berichte einer eilig einberufenen Clearingstelle sowie einer Expertenkommission, in der man vergeblich nach Experten suchte, hat die Bildungsbehörde mittlerweile unzugänglich gemacht beziehungsweise vernichtet. Der Psychologieprofessor Udo Rudolph von der Technischen Universität Chemnitz hat die Berichte untersucht. In seiner Stellungnahme kommt der renommierte Wissenschaftler zu dem Schluss, dass die methodischen Vorgehensweisen beider Gremien gar nicht geeignet waren, um ihrer Aufgabenstellung gerecht zu werden. Seine unabhängige Studie stellt fest, dass beide Kommissionen anderen Zielsetzungen folgten, als der Öffentlichkeit bekannt gegeben wurde: nämlich Kündigungsgründe zu finden. Nachlesen kann man Udo Rudolphs im Februar 2022 erschienene Stellungnahme auf den Webseiten der Initiative „Save the Dance“.

Gregor Seyffert und Ralf Stabel klagten gegen ihre Kündigungen. Das Land Berlin verlor alle Prozesse, versuchte es nochmals in zweiter Instanz, verlor erneut, denn Beweise gab es nicht. Geschätzte Verschwendung von Steuergeldern für nutzlose Untersuchungen und Prozesskosten: 500.000 bis eine Million Euro. Das war 2021.

An dieser Stelle hätten die Verantwortlichen den Absturz der Schule verhindern können, indem sie zum Beispiel die einst erfolgreichen, ungekündigten Schulleiter wieder einsetzt und gemeinsam mit ihnen dringend notwendige Reformen umzusetzen begonnen hätte, deren Notwendigkeit Ralf Stabel in seiner Amtszeit immer wieder angeregt und eingefordert hatte, damit jedoch einst auf taube Ohren stieß.

Alternativ hätte man andere, für diese Aufgaben qualifizierte Leute finden und einsetzen können. Aber es lief anders: Vorübergehend übernahm ein bereits pensionierter Ingenieur die Leitung. Dann wurde interimsweise die bis jetzt amtierende, einstige stellvertretende Leiterin eines Oberstufenzentrums für Bürowirtschaft und Verwaltung auf den verantwortungsvollen Schulleiterposten gesetzt. Die Pädagogin hatte bis dahin keinen fachlichen Bezug zu Tanz oder Artistik, wie man es von einer Chefin einer solche Hochleistungs-Einrichtung erwarten darf. Die künstlerische Leitung für die Staatliche Ballettschule Berlin bekam, ebenfalls amtierend, eine Tanzpädagogin aus dem Schulkollegium in die Hände.

Ein zum Scheitern verurteiltes Provisorium, das kurzsichtiger nicht hätte eingerichtet werden können, wie der Artikel von Torben Ibs zum Ausdruck bringt. Andere Presseberichte der letzten Tage, ausgelöst durch die unprofessionelle und nicht nachzuvollziehende Entscheidung der amtierenden Schulleiterin, die diesjährige Schulgala in der Deutschen Oper abzusagen, zeichnen erneut ein verzerrtes Bild und wiederholen gebetsmühlenartig unbelegte und unbewiesene Unterstellungen.

Am Nachmittag des 27. März 2024 verschickte die Presseabteilung der Berliner Senatsverwaltung für Bildung eine Erklärung zur Rehabilitation von Gregor Seyffert. Darin heißt es, dass „die Verdienste, die Prof. Seyffert als Künstlerischer Leiter der Staatlichen Ballettschule Berlin und Schule für Artistik erworben hat und die zur internationalen Ausstrahlung der Schule geführt haben, unbestritten“ sind. Die gegenüber Gregor Seyffert u.a. im Zusammenhang mit Kündigungen erhobenen Vorwürfe haben sich als gegenstandslos erwiesen. Eine Rückkehr an die Schule werde jedoch nicht erfolgen.

Gregor Seyffert wurde rehabilitiert und geht von der Schule. Für Ralf Stabel gibt es ein solches Schreiben bisher nicht. Das kann also bedeuten, er kommt an die Schule zurück, was einer Rehabilitierung gleichkäme und ein äußerst kluger Schachzug der neuen Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch wäre, die ihr Amt nach der letzten Berlin-Wahl vor einem Jahr angetreten hat. Mit dem Wechsel des Bildungsresorts von der SPD zur CDU und dem Amtsantritt der gebürtigen Dresdnerin verbanden sich viele Hoffnungen auf das Ende einer unfassbaren, von der Politik verantwortenden Lähmung im Prozess der Neugestaltung und Weiterentwicklung der Staatlichen Ballettschule Berlin.

Als Filmemacher beschäftige ich mich seit langer Zeit intensiv mit den teilweise absurden und unglaublichen Geschehnissen im Zusammenhang mit der Staatlichen Ballettschule Berlin. Eine umfangreiche, filmische Dokumentation ist in Planung, in der ich auch die Frage stellen möchte, ob mit einer der in diesem Artikel aufgezählten Ausbildungsinstitutionen in Stuttgart, Hamburg oder München ähnlich verfahren worden wäre? Führt tief verwurzeltes, stereotypes Denken möglicherweise dazu, dass Menschen, je nach Sozialisierung, glauben könnten: Das kann doch nicht wahr sein, dass der Osten und Ostdeutsche fähig sind, eine professionelle und zeitgemäße Tanzausbildung auf internationalem Niveau zu gestalten!

„Alle anderen großen Tanzausbildungen bekommen solche Galen übrigens problemlos hin, sei es in Stuttgart, Hamburg oder München“, betont Torben Ibs in seinem Beitrag auf tanznetz.de. Dass Torben Ibs, aufgewachsen in Elmshorn, jedoch lange ansässig in Leipzig und als Experte für ostdeutsche Kultur bekannt, in seiner Aufzählung die jährlichen Galavorstellungen der Dresdner Palucca Hochschule für Tanz in der Semperoper vergisst, hat mich nachdenklich gestimmt.

Konrad Hirsch, geboren 1976 in Dresden, Filmemacher, Geschäftsführer der Schamoni Film & Medien GmbH, lebt in Berlin.