27. Jahrgang | Nummer 5 | 26. Februar 2024

Binders Buchbasar

von Balthasar Binder

Was alles ist niemals fertig geworden! Man hätte es gern in Vollendung kennengelernt! Sinfonien, Gemälde, Kirchen, Romane, Dramen und Filme kamen nie oder nur halb ans Licht der Öffentlichkeit. Den Spuren berühmter Werke, die keinen Abschluss fanden, ist der Germanist Clemens Ottawa gefolgt. In seinem Buch „Die Unvollendeten“ erzählt er ebenso kundig wie unterhaltsam von Johann Sebastian Bach und der Quadrupelfuge; berichtet von Alice Neel und dem Bildnis des afro-amerikanischen Vietnam-Soldaten James Hunter, dessen Schicksal bis heute ungeklärt ist; von Natalie Holland, der Paralympic-Star Oscar Pistorius noch Modell saß, kurz bevor er seine Freundin erschoss; von Antonio Gaudi, dessen Kirchbau in Barcelona, in dessen Mauern der Meister begraben wurde, demnächst auch hundert Jahre nach seinem Tode (2026) vermutlich nicht zum Abschluss gekommen sein wird, und natürlich dürfen berühmte literarische Beispiele wie E.T.A. Hoffmanns „Kater Murr“ oder Franz Kafkas „Das Schloss“ nicht fehlen, für die Ottawa wissenswerte Details ausbreitet.

Dabei geht er von neueren Forschungen aus, die er immer mit Abstand wiedergibt. So scheint es heute unwahrscheinlich, dass Franz Schubert das Wirtshausleben allzu oft genossen hat, denn dann wäre seine große Produktivität nicht zu erklären. Gustav Mahlers Verhältnis zu Sigmund Freud ist von Geheimnissen begleitet. Der Autor schildert, wie es der große, aber eigenwillige Regisseur Orson Welles schwer hatte, seine Filmprojekte zu finanzieren, und verrät, dass der beliebte französische Charakterkomiker Fernandel seinen letzten Film um „Don Camillo und Peppone“ zwar bis zu Ende synchronisiert, aber nicht abgedreht hat.

 

Clemens Ottawa: Die Unvollendeten, Klampen Verlag, Springe 2023, 195 Seiten, 22,00 Euro.

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Blickfang waren das stilsichere Cover und schließlich die originellen, schnörkellosen Karikaturen, mit denen der Band illustriert war. „Lauter Lügen“ erzählte ein Buch mit vier humoristischen Balladen, das vor mehr als 100 Jahren ein gewisser Rideamus verfasst hatte. „Lasst uns lachen!“ bedeutet das lateinische Pseudonym des aus Breslau stammenden Rechtsanwalts und Humoristen Fritz Oliven (1874-1956). Er schrieb (teilweise im Kollektiv) Libretti für Operetten und Revuen von Oscar Straus, Eduard Künneke und Walter Kollo, wovon „Der Vetter aus Dingsda“ (1921) heute wohl noch am ehesten in Erinnerung ist. Als humoristischer Parodist verfasste Rideamus vor allem in der Kaiserzeit Bücher mit heiteren Gedichten und Balladen, die seine Verleger reich machten. (Er selbst litt auch keine Not.) Seine im Grundton etwas biederen Verse lehnten sich immer an den Zeitgeist an, arbeiteten sich am Okkultismus ab oder an der großen Begeisterung für Pferderennen. Auch holte er Klassisches ganz profan in die Gegenwart, etwa, wenn er Schillers „Taucher“ als „Heringsdorfer Badeidyll“ im großbürgerlichen Milieu parodierte: „Wie sitzt das Kostüm ihm so schlank und so fein! / Und wie schwellen die Muskeln von sehniger Kraft! / Er soll ja Reserveleutnant sein / Und Assessor bei der Staatsanwaltschaft!“

Die kongenialen Illustrationen des Büchleins schuf der Grafiker Ernst Deutsch (1887-1938), der nicht mit dem gleichnamigen Schauspieler verwechselt werden sollte, später in Hollywood als Filmausstatter arbeitete und sich den Beinamen -Dryden gab. Sowohl Oliven als auch Deutsch waren Juden, die sich vor den Nazis ins Ausland retten konnten. Ihre Arbeiten sind heute allzu gründlich vergessen.

 

Rideamus: Lauter Lügen, Schlesische Verlagsanstalt, Berlin 1912, 115 Seiten, nur antiquarisch erhältlich.