27. Jahrgang | Nummer 2 | 15. Januar 2024

Nekrologe 2023

von F.-B. Habel

Nun schon in einer kleinen Tradition soll hier Prominenten gedacht werden, die im alten Jahr von uns gingen und die vor allem dem Publikum im Osten in guter, manchmal auch verschütteter Erinnerung sind. An einige wurde im Blättchen schon erinnert, etwa an den 100-jährig verstorbenen bulgarischen Autor Angel Wagenstein oder den britischen Germanisten und Journalisten Ian King, der 35 Jahre lang – fast sein halbes Leben – eine Triebkraft in der deutschen Kurt Tucholsky-Gesellschaft war. Künstler oder Sportler, deren Tod es in die Tagesschau-Nachrichten geschafft hat oder zu deren Ehren Sender wie der MDR sein Programm änderten, wie bei Sportreporter und Entertainer Heinz Florian Oertel, Opernsänger und Entertainer Gunther Emmerlich oder der legendären Eislauftrainerin Jutta Müller, sollen hier nur erwähnt werden.

*

Frau Müller war gut bekannt mit dem sowjetischen Eislauf-Ehepaar Ljudmila Beloussowa und Oleg Protopopow. Die Beloussowa starb bereits 2017 mit 82 Jahren. Als ihr Protopopow im Herbst 91-jährig folgte, nahm es selbst die Sportwelt nur verhalten zur Kenntnis. Zwischen 1962 und 1969 gewannen sie immerhin bei internationalen Wettbewerben 18 Medaillen im Paarlauf, darunter zwei Mal olympisches Gold. Als Solisten traten sie mit dem Leningrader Eisballett auf und setzten sich 1979 in die Schweiz ab, wo sie in Grindelwald ihr neues Zuhause fanden.

 

Eine prominente Sportlerin der DDR (elf Mal DDR-Meisterin zwischen 1967 und 1980) errang ebenfalls zwei olympische Goldmedaillen. Die Leichtathletin Ruth Fuchs war Speerwerferin und konnte sich in München 1972 und Montreal 1976 durchsetzen. 1974 und 1978 wurde sie Europameisterin, auch wenn sie ihre einstige sensationelle Weite von 59,16 m bei internationalen Wettbewerben nicht wieder erreichte. Sie wurde Diplomsportlehrerin und war bis 2002 Bundestagsabgeordnete für die PDS sowie bis 2009 Abgeordnete des Thüringer Landtags. Mit 76 Jahren starb sie im September in Jena.

 

Im Berliner Haus der Jungen Talente in der Klosterstraße gab es Ende der fünfziger Jahre auch eine Tauchsport-AG. Zu ihr fand der zwanzigjährige Jungschauspieler Otmar Richter, etwa zu der Zeit, als er bei der DEFA in einer Hauptrolle als Lehrling des Fischkombinats Saßnitz im Krimi „SAS 181 antwortet nicht“ vor der Kamera debütierte. Heiner Carow gab ihm 1964 eine weitere Hauptrolle in dem Drama „Die Hochzeit von Länneken“. Doch Richter schloss sich bald dem Schauspielerensemble des Fernsehfunks an, wo er beispielsweise in zahlreichen Folgen von „Polizeiruf 110“ und „Der Staatsanwalt hat das Wort“ dabei war. Auch als TV-Autor trat er hervor, so 1978 in der Tauchsport-Komödie „Amor holt sich nasse Füße“ und 1987 in der Serie „Fridolin“. Natürlich spielte er selbst mit. Ein halbes Jahr nach seinem 85. Geburtstag starb er im Oktober.

 

Eine wirkliche Größe bei Bühne und Film in der DDR ging im April von uns. Karin Gregorek, die 81 wurde, war nicht nur die Muse von Peter Hacks, sondern auch seine kongeniale Interpretin („Ein Gespräch im Hause Stein über den abwesenden Herrn von Goethe“) und inszenierte z.B. sein Stück „Armer Ritter“. Ihren größten Kino-Erfolg feierte sie mit Lothar Warnekes „Einer trage des anderen Last“. Für die Rolle der Oberschwester Walburga wurde sie auf dem Karl-Marx-Städter Filmfestival ausgezeichnet. Später trat sie in Serien auf, wovon ihre Nachbarin in „Mama ist unmöglich“ (1997-1999) und die von vielen Versuchungen geplagte Schwester Felicitas in „Um Himmels Willen“ (2002-2021) durch viele Wiederholungen noch lange im Gedächtnis bleiben.

 

In „Ottokar, der Weltverbesserer“ machte die Gregorek die Lehrerin Pitthuhn 1977 zu einem Kabinettstück. Der aus Niederschlesien stammende Regisseur Hans Kratzert hatte als Kind vielerlei Fluchterfahrungen verarbeiten müssen. Das half ihm, gerade Themen der jüngsten Vergangenheit besonders bei Kindern Glaubhaftigkeit zu verleihen, so 1973 in „Der Wüstenkönig von Brandenburg“ und 1987 in „Der Schwur von Rabenhorst“. Bei der DEFA hat er zunächst mit einigem Erfolg Spielfilme für Erwachsene inszeniert, und bei dem Indianerfilm „Tecumseh“ (1972) lobte die Kritik, dass Gojko Mitic so locker wie nie zuvor gewesen sei. Unter seinen Kinderfilmen fanden sich eher wenige Märchen, wie „Hans Röckle und der Teufel“ (1974) und „Der Drache Daniel“ (1990). Zu seiner Spezialität wurden Gegenwartsfilme mit und für Kinder, die sich oft durch einen Humor auszeichnen, den auch die Eltern mochten, neben dem „Ottokar“ auch „Wir kaufen eine Feuerwehr“ (1970) und „Taubenjule“ (1982). Nach langer Krankheit starb Kratzert, dessen Filme nicht nur in der DDR sondern auch in der Tschechoslowakei und Italien Preise gewannen, im August 83-jährig in Falkensee.

 

Auch, wenn Hans Kratzert in seinen Filmen hin und wieder kleine Rollen übernahm, war das doch kein Vergleich mit dem Bühnentier Friedo Solter. Der im Lebuser Land geborene Künstler hatte eine solide Schauspielausbildung in Berlin und hospitierte in dieser Zeit auch bei Brecht am Berliner Ensemble. Solter spielte in Senftenberg und Meiningen, ehe ihn Wolfgang Langhoff 1959 an das Deutsche Theater holte. Hier hat er viele eindrucksvolle Rollen gestaltet – auch im Fernsehen. Die Titelrolle in „Dantons Tod“ ist ebenso unvergesslich wie sein Napoleon Bonaparte in dem Mehrteiler „Scharnhorst“. Das tritt in der Nachbetrachtung jedoch in den Hintergrund gegenüber seiner Arbeit als Regisseur. Seit 1964 wurde er im DT stilprägend. Er war Schauspiellehrer und Gastregisseur an vielen Häusern von Bonn bis Schwerin. Im Februar starb der 90-jährige in seinem Wahl-Refugium auf Usedom.

 

In Solters Inszenierung von Shakespeares „König Lear“ spielte 1976 den Gloster ein Schauspieler, der genauso lange am Deutschen Theater wirkte: Reimar Joh. Baur. Noch in den vierziger Jahren hatte er seine Ausbildung am DEFA-Nachwuchsstudio erhalten und tatsächlich ab und an bei der DEFA gespielt, beispielsweise 1974 die Titelrolle in Frank Vogels Historienfilm „Johannes Kepler“. Frank Beyer gab ihm 1992 seine letzte Hauptrolle in dem ARD-Zweiteiler nach einer Ehegeschichte von Klaus Poche „Sie und Er“ mit Senta Berger. Baur blieb noch bis 2001 am DT, musste dann aber aufhören, weil seine Sehkraft nachließ. Unter seinen Theaterrollen bleibt sein Säufer Joxer in „Juno und der Pfau“ in Adolf Dresens Regie unvergessen. Bei aller Dalberei gab er der Figur einen wichtigen Schuss Tragik. Und Baur war Robert Iswall in Kants „Aula“, eine Rolle, die er stark ins Ironische verlegte. Nur Wochen nach seinem 95. Geburtstag ist er im März in Berlin gestorben.

 

Ein anderer großer Mime am Deutschen Theater Berlin war eben in dieser Ära Horst Hiemer, der im Sommer 90-jährig von uns ging und in Inszenierungen von Karl Paryla, Friedo Solter, Wolfgang Heinz und Adolf Dresen wichtige Aufgaben übernahm. Auch als Sprecher war er gefragt. Sein warmes, sonores Organ konnte man in Dutzenden Hörspielen und -büchern erleben. Den Durchbruch vor der Kamera hatte er 1962 in dem Fünfteiler „Geboren unter schwarzen Himmeln“, der die Geschichte der Leunawerke aus Sicht der Arbeiterbewegung zeigt. Hiemer gestaltete die Hauptfigur über drei Jahrzehnte. Politische Auseinandersetzungen auf dem Lande schilderte 1966 der Dreiteiler „Hannes Trostberg“ mit Hiemer in der Titelrolle.

 

Im Deutschen Theater der fünfziger Jahre gehörte Regine Lutz zu der Truppe, die das Berliner Ensemble bildete, bis 1955 mit dem Schiffbauerdammtheater das eigene Haus zur Verfügung stand. Die aus der Schweiz stammende Aktrice war am Zürcher Schauspielhaus von Brecht entdeckt und nach Berlin geholt worden, wo sie ein Jahrzehnt lang herausragende Rollen am Berliner Ensemble spielte, später auch am Theater am Kurfürstendamm, der Schaubühne und dem Schillertheater, in München und Hamburg. Friedrich Dürrenmatt und Rolf Hochhuth besetzten sie in ihren Stücken. Auch in Filmen trat Regine Lutz auf, bei der DEFA in „Jacke wie Hose“ (1953) und „Mutter Courage und ihre Kinder“ (1961), später bei Eberhard Fechner, Michael Kehlmann, Volker Schlöndorff, Margarethe von Trotta und Krzysztof Zanussi, aber auch in Unterhaltungsfilmen, etwa neben Inge Meysel. Regine Lutz starb im Dezember fünf Tage vor ihrem 95. Geburtstag.

 

Viele Lieblinge der Berliner Bühnen, auch von Film und Fernsehen bekannt, sind 2023 mehr oder minder sang- und klanglos aus der Gegenwart verschwunden. Zu ihnen zählt Evamaria Bath, die im Sommer mit 94 Jahren starb. Als Elevin hatte sie noch einer lebenden Legende, der Meininger Hofschauspielerin Amanda Lindner vorgesprochen. Nach ihrem Schauspielunterricht hatte sie kurze, aber erfolgreiche Theaterjahre in Thüringen hinter sich, als sie 1954 nach Berlin kam, wo sie fast vier Jahrzehnte lang dem Maxim-Gorki-Theater angehörte. 1951 spielte sie bereits die erste Hauptrolle in dem DEFA-Film „Zugverkehr unregelmäßig“. Weitere Filmrollen folgten sporadisch, denn einerseits die Theaterarbeit, andererseits ihre beiden Kinder ließen ihr wenig Spielraum. Was für eine Komödiantin sie war, konnte sie z.B. als Frau Sassafrass in dem Kinderfilm nach Franz Fühmann „Die Suche nach dem wunderbunten Vögelchen“ (1964) zeigen. Ihr Mann, der 2018 verstorbene Hubert Hoelzke, besetzte sie immer mal wieder, so 1987 als Täterin in der „Polizeiruf“-Folge „Die letzte Kundin“. Auch aus Hörspielen bleibt sie in Erinnerung. So war sie in den ersten Jahren die Mutter in der beliebten Serie „Neumann, zweimal klingeln“ neben Herbert Köfer auf Radio DDR.

 

Zwei Monate vor seinem 95. Geburtstag ging im Sommer Hans-Joachim Hanisch endgültig von uns, nachdem er sich schon vor drei Jahrzehnten aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hatte. Kurz nach Gründung der DDR war der Koblenzer nach Berlin zu Fritz Wisten gekommen, der damals das Schiffbauerdammtheater leitete. Ihm folgte er an die Volksbühne, deren Mitglied er bis zu Beginn der neunziger Jahre blieb. Daneben spielte Hanisch auch in Schwänken des Fernsehtheaters Moritzburg, durch die seine Popularität noch gesteigert wurde. Dabei war er kein Schauspieler, den man in „Schubladen“ stecken konnte. Er überzeugte in dramatischen wie in komischen Rollen, spielte Kriminalisten so nachvollziehbar wie Gauner oder Nazi-Schergen. Als Synchronsprecher arbeitete er häufig für die Filme der „Olsenbande“ und der dänischen Serie „Oh, diese Mieter!“.

 

In Stettin geboren, in Lubmin aufgewachsen und in Greifswald im Herbst gestorben – Lutz Riemann, der auf der Peene-Werft Schiffbauer gelernt hatte, war ein Mann des Nordens, der seine ersten Bühnenschritte allerdings in Meiningen und Weimar ging. Er war als Kriminalist Lutz Zimmermann aus 25 „Polizeiruf“-Filmen bekannt, verkörperte Ernst Thälmann in zwei Filmen des DFF. Da seine Tochter ein nachdenkliches Buch über ihn schrieb, soll es hier einmal ausgesprochen werden: Er ließ sich mit dem Staatssicherheitsdienst ein. Weil Riemann mit dem SPD-Politiker Peer Steinbrück verschwägert war, galt er als besonders interessant. In den neunziger Jahren arbeitete er als Moderator und Redakteur beim Schweriner NDR und wurde 82 Jahre alt.

 

Sein Namensvetter Werner Riemann starb schon im Januar, wenige Tage vor dem 89. Geburtstag. Er galt als letztes „Urgestein“ aus Brechts Zeit am Berliner Ensemble. Der Schauspieler war zunächst Drogist, fühlte sich zur Schauspielerei hingezogen und sprach seine Kundin Marga Legal an, ob sie ihm helfen könne. Mit ihrer Fürsprache kam er zu Maxim Vallentin ans Gorki-Theater und kurz darauf zum BE. Auch in Kino- und Fernsehfilmen hat er immer wieder kleine Rollen übernommen und seine Kinder sind alle drei bei Bühne und Fernsehen aktiv.

 

Nicht nur die Berliner, auch die Leipziger haben im vergangenen Jahr ihre „Legenden“ zu Grabe tragen müssen. Gert Gütschow starb im März wenige Tage nach dem 95. Geburtstag. Der gebürtige Rostocker war seit 1959 eine feste Größe am Leipziger Schauspielhaus. Republikweit wurde er durch viele Film- und Fernsehrollen bekannt. Am eindringlichsten war wohl sein Serienmörder in „Leichensache Zernik“ (1972), am hintergründigsten als Arzt in dem Krimi „Klassenkameraden“ (1984). Einen alten Professor spielte er in der Serie „In aller Freundschaft“ (1999-2006), wo man ihm in Wiederholungen noch immer begegnen kann.

 

Der zwei Jahre jüngere Manfred Zetzsche, der im August starb, hatte in Leipzig den Beruf gelernt und dort 1953 debütiert. Mehr als vier Jahrzehnte gehörte er den dortigen Städtischen Bühnen an. Dem breiten Publikum wurde er 1970 als Zollkommissar Frank in der DFF-Serie „Zollfahndung“ ein Begriff, war Gegenspieler für Gojko Mitic in dem in der Mongolei gedrehten Indianerfilm „Der Scout“ und zeigte seine Vielseitigkeit in Filmen internationaler Regisseure, etwa des Schweizers Bernhard Wicki und des Russen Sergej Gerassimow.

 

Der Tod der großen, aus Baschkirien stammenden russischen Schauspielerin Inna Tschurikowa im 80. Lebensjahr wurde bei uns kaum zur Kenntnis genommen. Hierzulande ist sie einzig noch in dem Märchenfilm „Abenteuer im Zauberwald“ (1964) als hässliche Marfuschka zu sehen. Dabei gehören zu ihrem Oeuvre international vielbeachtete Filme, wie „Durchs Feuer führt keine Furt“ (1968), „Hauptrolle für eine Unbekannte“ (1970), „Ich bitte ums Wort“ (1976), „Frontromanze“ und „Wassa“ (beide 1983). Einige davon inszenierte ihr Mann, der Regisseur Gleb Panfilow. Er starb nur wenige Monate nach seiner Frau in Moskau mit 89 Jahren. Sein 1979 entstandener Film „Das Thema“ über einen mit dem sowjetischen System hadernden Autor wurde als zu kritisch eingeschätzt und kam erst 1987 in einer ungekürzten Fassung an die Öffentlichkeit, bei der Berlinale ausgezeichnet mit dem Goldenen Bären. Noch 2021 legte der betagte Regisseur seinen letzten Film nach einem Roman von Alexander Solshenizyn vor, in dem auch die Tschurikowa in der Rolle einer alten Frau mitwirkte.

 

Zu den osteuropäischen Schauspielern, deren Filme besonders in der DDR ihr Publikum fanden, zählt Lajos Balázsovits. Schon in seinen Budapester Studienjahren holte ihn Károly Makk 1968 vor die Kamera, und im folgenden Jahr spielte Balázsovits erstmals in einem Film von Miklós Jancsó, der für die weitere Filmlaufbahn des Schauspielers bestimmend sein sollte. In seinen unkonventionellen, in symbolischer Bildsprache gehaltenen Filmen wie „Roter Psalm“ (1972), „Meine Liebe – Elektra“ (1975) und dem Sequel „Ungarische Rhapsodie“ und „Allegro Barbaro“ (beide 1979) war Balázsovits prägend für die besondere Ästhetik dieser Filme. Er starb in Budapest im Sommer mit 77 Jahren.

 

Als bedeutender, aber unangepasster, eigenwilliger georgischer Regisseur startete Otar Iosseliani 1958 und war mit dem ungewöhnlichen Alltagsfilm „Die Singdrossel“ (1970), der einen philosophischen Anspruch hatte, erstmals auf einem künstlerischen Höhepunkt. Doch die sowjetische Filmadministration machte ihm die Arbeit nicht leicht, so dass er nach Frankreich emigrierte, wo er im Dezember sechs Wochen vor dem 90. Geburtstag starb. Er war ein französischer Regisseur geworden, dessen bis 2015 entstandene Filme sich oft mit der Geschichte der Länder der Sowjetunion auseinandersetzten.

 

Mit der Filmsprache großer Regisseure wie Jancsó oder Iosseliani hat sich auch der Publizist Fred Gehler intensiv auseinandergesetzt. Der aus dem Erzgebirge stammende Autor studierte in Leipzig Journalistik und blieb der Stadt treu. Seit den fünfziger Jahren schrieb er Filmkritiken und filmpolitische Artikel im Sonntag und Fach- wie auch Publikumszeitschriften, sprach später regelmäßig in der Sendung „Atelier und Bühne“ im Berliner Rundfunk, arbeitete bei der Leipziger Dokumentarfilmwoche mit (von 1993 bis 2003 auch als Intendant). Gehler war wegen seiner Auffassungen zeitweisen Einschränkungen seiner Arbeit unterworfen. Immerhin konnte er ab 1974 mehrere filmhistorische Essays für das DDR-Fernsehen gestalten. Er starb im April mit 86 Jahren, ohne dass er je aufklärte, welchen Kern die 2012 erhobenen Vorwürfe hatten, er habe als IM der Stasi zugearbeitet.

 

Bei dem DEFA-Film „Sabine Wulff“ (1978) hob Gehler im Sonntag den unverstellten Blick auf eine junge Generation mit Rissen und Diskrepanzen hervor. Das setzte damals der Kameramann Peter Brand ins Bild. Er starb am Ostermontag mit 85 Jahren. Schon mit 18 begann der fotobegeisterte Junge aus Gera seine Laufbahn. Er wurde 1955 an der Babelsberger Filmhochschule in der Sektion Kamera aufgenommen. Nach verschiedenen Praktika konnte er sowohl Spiel- als auch Dokumentarfilme drehen – den ersten in der Mongolei. Zu seinen wichtigsten Regisseuren zählten Erwin Stranka („Zum Beispiel Josef“, 1974, „Sabine Wulff“), Roland Gräf („Märkische Forschungen“, 1982) und Egon Günther („Ursula“, 1978), mit dem Brand auch in den neunziger Jahren noch mehrfach arbeitete. Seine Profession führte ihn bis nach Kairo als Filmlehrer und 1990 gar als Professor nach New York. „Die Filmarbeit bei der DEFA war unser Leben“, sagte er vor einiger Zeit in einem Interview, „ und das Arbeiten mit den Kollegen und diese Atmosphäre fehlen mir bis heute.“

 

Zu diesen Kollegen gehörte Thomas Plenert, der allerdings nur gelegentlich im Spielfilmstudio gastierte. Immerhin drei Spielfilme drehte er mit Lothar Warneke, und je einen mit Jörg Foth, Rainer Ackermann und Helke Misselwitz. Mit den drei letztgenannten hatte er zuvor schon Erfahrung mit Dokumentarfilmen. Plenert fand immer das Individuelle im Alltäglichen, so bei der Kamerafahrt über allerhand Krimskrams in „Tango-Traum“ von Helke Misselwitz. Mit ihr zusammen realisierte er auch einen der erfolgreichsten programmfüllenden Dokumentarfilme am Ende der DDR, die Frauenporträts in „Winter adé“ (1988). Plenert war hinter der Kamera ein wichtiger Partner für erfolgreiche Regisseure wie Jürgen Böttcher, Volker Koepp, Pepe Danquart, Wim Wenders und Lutz Dambeck. Er starb im Sommer mit 72 Jahren in Waren (Müritz).

 

Für Regisseur Rainer Ackermann waren seine beiden Kameramänner in „Die Cousins“ (1988) auch Mit-Regisseure. Neben Plenert war das Christian Lehmann, der nach einem abgebrochenen Grafikstudium in Leipzig 1955 zur gerade eröffneten Filmhochschule nach Babelsberg wechselte, um dort Kamera zu studieren. Ab 1961 arbeitete er als selbstständiger Kameramann im DEFA-Dokumentarfilmstudio, später freiberuflich bis 2006 an rund 200 Filmen mit. Sein vertrautester Regisseur war sein Studienfreund Jürgen Böttcher, an dessen wichtigsten Filmen Lehmann beteiligt war. Doch auch Winfried Junge, Richard Cohn-Vossen, Volker Koepp, Karlheinz Mund und Lew Hohmann wetteiferten, wer Christian Lehmann mit dem ganz besonderen Blick für seinen Film bekommen könne. Er suchte immer einen persönlichen Zugang zu seinen Themen, wählte eine poetische oder aber auch eine streng dokumentarische Bildsprache. Im November starb er im 90. Lebensjahr.

 

Auch eine bedeutende Dokumentaristin hat uns am Ende des Jahres verlassen. Gitta Nickel starb in Werder (Havel) mit 87 Jahren nach längerer Krankheit. Sie schuf oft streitbare Porträts internationaler Künstler von Walter Felsenstein (1970) über die May (1976), Vladimir Pozner (1984) und Konrad Wolf (dessen Regieassistentin sie mal war) bis zu István Szábo (1993). Doch besonders erfolgreich widmete sie sich dem geforderten Thema der Arbeiterklasse, und weil die Nickel sie so unheroisch werden ließ, sind es noch heute aufschlussreiche soziale Studien. Sie war bei Strumpfwirkerinnen in „Wir von ESDA“ und bei Bauarbeitern in „Manchmal möchte man fliegen“. Das waren nicht nur sehenswerte Filme, sondern sind heute authentische Dokumente einer vergangenen Zeit.

 

Für einen Dokumentarfilm von Cohn-Vossen hat Wolfram Heicking 1968 mal die Musik geschrieben, aber sonst immer Töne für Spiel- oder Fernsehfilme gesetzt. Der Leipziger studierte in seiner Heimatstadt und ging schon 1951 nach Berlin, wo er es als Dozent bis zum Hochschulprofessor brachte. Unter seinem vielfältigen kompositorischen Schaffen (auch eine Operette war darunter), ragt seine Arbeit mit Schauspielern wie Gisela May und Manfred Krug hervor, die ihn für Filmmusik prädestinierte. Dazu zählte das Herricht-Lustspiel „Meine Freundin Sybille“ (1967) ebenso wie die Brecht-Adaption „Die Rache des Kapitäns Mitchell“ (1979). Er wurde 96 Jahre alt und starb in Stahnsdorf.

*

Weiteren Verstorbenen soll hier chronologisch gedacht werden. Im Januar verstarb die Brandenburger Schauspielerin und Diseuse Marion Wiegmann (73), die nur selten vor die Kamera trat, aber für die Hauptrolle in Iris Gusners satirischer DEFA-Komödie „Kaskade rückwärts“ (1984) in Erinnerung bleiben wird. – Im Februar wurde der Schauspieler und Autor Erwin Berner (69), der eigentlich Erwin Strittmatter hieß, tot in seiner Wohnung gefunden. Er wollte nicht mit seinem Vater identifiziert werden und spielte unter seinem Pseudonym in vielen Filmen, u.a. in der Heinrich-Mann-Adaption „Die Verführbaren“ (1977) und in der Hauptrolle von „Adel im Untergang“ (1980/81) von Ludwig Renn. – Auch, wenn er in der Öffentlichkeit im Schatten seiner Frau Christa stand (mit der ihn 60 Jahre Ehe verbanden), war Gerhard Wolf (94) doch vor allem als Lektor, Herausgeber und Verleger ein Schwergewicht in der deutschen Literatur. Er arbeitete als Librettist und Szenarist und verhalf manch literarischem Talent zum Durchbruch. An dieser Stelle sei auch der Lyriker Bert Papenfuß-Gorek (67) erwähnt, den Wolf förderte, und der im August starb. – Jung, frisch und manchmal auch leicht verschmitzt präsentierte Klaus Feldmann (87) ab 1961 die Nachrichten der „Aktuellen Kamera“. Mehrfach wurde er dafür zum „Fernsehliebling“ gewählt. Im Rentenalter veröffentlichte er mehrere heitere Bücher aus seiner Nachrichtenzeit. – Der Saxofonist, Klarinettist und Flötist Ernst-Ludwig „Luten“ Petrowsky (89) war einer der vielseitigsten Jazzmusiker der DDR, der sich besonders dem Free Jazz widmete. Der Ehemann der Sängerin Uschi Brüning hinterlässt glücklicherweise ein fünf Jahrzehnte umfassendes Oeuvre mit Tonaufnahmen. – Dass Michael Hansen (82) Schlagersänger war und mit den „Nancies“ auftrat, war allgemein bekannt. Aber Klaus Schibilsky, wie er eigentlich hieß, spielte auch mehrere Instrumente und komponierte eigene Titel. Wie Petrowsky auch starb er im Juli. – Im August nahmen es Blättchen-Freunde mit Trauer zur Kenntnis, dass der Wirtschaftshistoriker und Autor Thomas Kuczynski (78) von uns ging. Er war der Sohn von Jürgen und Marguerite Kuczynski, die schon in der Weimarer Republik für die Weltbühne geschrieben hatten. Sohn Thomas setzte die Tradition fort, belieferte seit 1998 beide Weltbühne-Nachfolger, schrieb bei uns kompetent über die Planwirtschaft in der DDR oder rezensierte neue geschichtsbetrachtende Bücher. – Ein weiterer, aus der „Aktuellen Kamera“ bekannter Journalist verließ uns im August. Heinz Grote (98), von Freunden „Hein“ genannt, war Chefredakteur der Hauptnachrichtensendung des DDR-Fernsehens und ihr erster in Bonn akkreditierter Fernseh-Korrespondent. Er hat viel erlebt und ist im Ruhestand nur noch selten als Zeitzeuge aufgetreten. – Der im September verstorbene Schriftsteller Manfred Richter (93) hatte ursprünglich Schauspiel studiert, aber war dann doch Kunsterzieher geworden. Diese Vorkenntnisse befähigten ihn, als Drehbuchautor für die DEFA zu arbeiten. Zu seinen bekanntesten Filmen zählten „Reife Kirschen“ mit Günther Simon (1972/73) und „Vernehmung der Zeugen“ mit René Steinke (1987). – Im Oktober verließ uns Kammersänger Reiner Goldberg kurz vor seinem 84. Geburtstag. Der Tenor aus der Oberlausitz, ein Wagner-Spezialist, der in Wien, Bayreuth und an der New Yorker Metropolitan gastierte, war von der Dresdner Staatsoper kommend 1981 zu der Unter den Linden gewechselt, wo er 2019 zum Ehrenmitglied ernannt wurde. – In Altenburg als Schauspieler entdeckt, fand Erik Veldre (91) vor allem bei Film und Fernsehen seine Bestimmung. Hauptrollen in DEFA-Filmen spielte er ab 1960 bei Regisseuren wie Heiner Carow, Frank Beyer und Walter Beck. In Juri Oserows internationaler Produktion „Schlacht um Moskau“ (1986) verkörperte Veldre eindrucksvoll den Nazi-Befehlshaber Guderian. Auch im „Polizeiruf 110“ war er oft dabei. – Dass der „Zauberpeter“ nicht Peter Kersten, sondern bürgerlich Peter Lehmann hieß, wussten die Zuschauer, die ihn auf der Bühne oder in seinen TV-Shows wie „Zauber auf Schloß Kuckucksstein“ bewunderten, nicht. Der promovierte Chemiker war 1964 bei „Herzklopfen kostenlos“ entdeckt worden und ging am Reformationstag mit 80 Jahren von uns. – Zu Heiligabend starb der einstige Dresdner Schauspieler und Synchronsprecher Bodo Wolf (79), dem bei der DEFA in zwei Filmen als Märchenprinz die Herzen zuflogen, und der im DFF-Fünfteiler „Scharnhorst“ (1979) Generalmajor Clausewitz war. – Zum Schluss sei noch an einen Erfolgsregisseur erinnert, der auch als Schauspieler hervortrat. Klaus Gendries (93) hat 1949 beim Theater als Schauspieler begonnen und noch mit 90 an einem Berliner Theater Regie geführt. Ab 1963 inszenierte er beim DDR-Fernsehen unterhaltsame Filme und Serien. Edda Dentges, seine Hauptdarstellerin in „Hafengeschichten“ (1970) und „Florentiner 73“ (1972) wurde auch Hauptdarstellerin in seinem Leben, und der gemeinsame Sohn Götz stand u.a. in „Meschkas Enkel“ 1981 neben Erwin Geschonneck vor der Kamera. Gendries, bekannt auch als Hauptmann Reger beim „Polizeiruf 110“, verfilmte Storm (u.a. „Schimmelreiter“, 1985) und Tucholsky („Rheinsberg“, 1990). Und noch lange wird das Publikum über seine Mini-Serie „Aber Vati!“ (1974, 1979) schmunzeln. Und dieses Lächeln sollte allen der 2023 von uns Gegangenen gelten, wenn wir uns an sie erinnern!