von Alfred Fleischhacker
Ungewöhnlich ist das Entstehen des Buches. Nicht weniger ungewöhnlich sein Inhalt. Es reflektiert Zeiten und Umstände, die für das 20. Jahrhundert nicht untypisch waren. Nachvollziehbar sind sie am Lebensweg des Autors, eines deutschen Juden, Sozialisten, dessen Vorfahren in Polen lebten.
Der Autor kam 1901 zur Welt und erhielt den Namen Alexander Kupfermann. Im Verlauf eines ständig im Aufbruch befindlichen Lebens wurde aus dem Heranwachsenden, oft den Wohnort, das Aufenthaltsland wechselnden Kupfermann Friedrich Alexan. Er wollte Schriftsteller werden. In einem – vermutlich 1949 verfaßten – Lebenslauf hatte er notiert, er habe beabsichtigt, eine Trilogie »Zwischen zwei Weltkriegen« zu schreiben. Deren erster Teil erschien 1937 in einem Pariser Verlag: Im Schützengraben der Heimat – Geschichte einer Generation.
Alexan war ein verfolgter Schriftsteller. Er flüchtete nach Paris, dann nach Palästina, in die Vereinigten Staaten, bis er schließlich Anfang der fünfziger Jahre zurück nach Deutschland in den östlichen der 1949 entstandenen zwei Staaten, die DDR, kam.
Es vergingen fast sieben Jahrzehnte, ehe dieses Buch nun in Deutschland erschien. Sein Inhalt reflektiert ziemlich genau den Alltag in Mannheim, dort, wo das Geschehen angesiedelt ist und der Autor auch lebte, bis er Anfang der dreißiger Jahre, noch ehe die Regierungsgewalt an Hitler übergeben wurde, die Heimatstadt verließ. Der Verleger Ulrich Wellhöfer und ein Pädagoge der Stadt Mannheim haben dieses Buch nicht nur neu entdeckt, sondern auch als einen wertvollen Beitrag zur Geschichte Mannheims beschrieben.
Es ist in drei Kapitel gegliedert. Das erste mit der Überschrift »Der Spieß« gibt Einblicke m den Alltag einer Schule zwischen 1914 bis 1916. Geschildert wird ein »Pädagoge«, der viel besser auf einen Kasernenhof gehört hätte. Sein Credo gegenüber den Schülern: absoluter Gehorsam. Wurde der auch nur angezweifelt, setzte es Prügel. Sie wurde ohne Gefühlsregung verabreicht. Wichtigstes Hilfsmittel des Lehrers, die Schüler zu willenlosen Subjekten zu degradieren: eine blitzende Pfeife.
Die Hauptperson im dritten Kapitel ist ein von der Pubertät geplagter junger Mann, der von sexuellen Bedürfnissen getrieben, voll innerer Hemmungen und auch Ängsten, ein Bordell aufsucht. Dort eine der Frauen anspricht und in ihr eine verständnisvolle, fast mütterliche Beschützerin findet. Als stiller Beobachter registriert er sorgsam die Gespräche der Bordellkunden, Dauergäste, aber auch zahlreicher Soldaten aus den Schützengräben auf Heimaturlaub während des Ersten Weltkrieges. So entsteht für den Leser des Buches ein Bild von den Sehnsüchten und Hoffnungen der kleinen Leute im dritten Kriegsjahr. Sie litten unter ständig wachsenden Entbehrungen, die Zahl der Gefallenen wurde immer größer.
Oskar Maria Graf befand 1939 in einem Brief an einen Mr. Friedland: »Es wäre nicht zu viel zu sagen, wenn ich behaupte, daß dieses Buch des leider zu wenig bekannten jungen Autors zu den stärksten und eindringlichsten Arbeiten des freien deutschen Schrifttums gehört. Alexan hat es – was bei einem so jungen erst beginnenden Autor besonders ins Gewicht fällt – verstanden, durch die Aufzeichnung vieler Einzelschicksale gleichsam ein gültiges Gesamtbild einer Generation, nämlich der deutschen Kriegsgeneration von der Heimat zu geben. Vieles, was heute in Deutschland traurige und verständliche Wirklichkeit geworden ist, findet durch Alexans Buch eine ursächliche Erklärung.«
Friedrich Alexan: Die Welt der kleinen Leute, Wellhöfer-Verlag Mannheim, 320 Seiten, 12,80 Euro
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