27. Jahrgang | Nummer 1 | 1. Januar 2024

Wäre Einstein heute ein Schwurbler?

von Torsten Harmsen

Einstein wäre heute ein Schwurbler“, las ich neulich in einem Interview mit dem Medizinstatistiker Gerd Antes – der auch in der Berliner Zeitung bereits öfter zu Wort kam. Darin ging es darum, dass Politik und Medien mit Berufung auf die Wissenschaft gern Gewissheiten vorgäben, die es nicht gebe. Und dass Menschen, die Zweifel daran äußerten, gern in die Ecke der „Schwurbler“ gestellt würden. Einstein würde also heute als ein solcher angesehen. Aber stimmt das auch? Wer würde ihn so ansehen und warum?

Zunächst: Der Begriff „Schwurbler“ stammt wohl wie „Schwurbeln“ und „Geschwurbel“ vom mittelhochdeutschen Wort „swerben“ („taumeln, sich im Kreise drehen“). Laut Duden bedeutet es „Unsinn reden“. Noch vor Jahren soll das Geschwurbel so selten in Gebrauch gewesen sein, dass es erst nach 2009 in den Duden einzog. Erst die Corona-Pandemie machte es populär.

Leider wirkt es in der Debatte kontraproduktiv. Denn der Vorwurf, jemand sei ein „Schwurbler“, sagt nicht: „Was du behauptest, ist falsch“ und auch nicht: „Was du sagst, verstehe ich leider nicht.“ Vielmehr bricht es jede Diskussion ab, wie es in einem Artikel des Philosophie-Magazins heißt. Es bedeutet: „Was du sagst, ist eigentlich sinnlos.“ Es lohnt sich gar nicht erst, darüber zu diskutieren.

Würde man heute Einstein solch einen Vorwurf machen? Um das zu beantworten, muss man sich erst einmal ansehen, wie es ihm zu seiner Zeit erging. Das wird erstklassig beschrieben in dem Buch „Die Verfolgten“ von Thomas Bührke, der selbst promovierter Astrophysiker und seit 1990 freier Wissenschaftsautor ist – und auch lange für die Berliner Zeitung gearbeitet hat. In seinem Buch befasst er sich mit acht „genialen und geächteten Wissenschaftlern von Giordano Bruno bis Alan Turing“.

 

Grandios quasi aus dem Nichts

 

Schon früh war Albert Einstein widerspenstig und hasste den Drill in der Schule, wie Bührke beschreibt. „Ich ließ also lieber jede Sorte von Bestrafung über mich ergehen, als dass ich etwas auswendig herplappern lernte“, erinnerte sich Einstein. Auch im Studium fiel er auf. So ermahnte ihn einmal der Dozent für Elektrotechnik, „er sei zwar ein gescheiter Junge, habe aber einen großen Fehler: Er lasse sich nichts sagen“.

Einstein tat genau das, was Grundlage echter Wissenschaft ist: am Bestehenden zu zweifeln. Früher gab es ein gutes Wort dafür: „Querdenker“. Leider ist dessen einst positive Bedeutung in den vergangenen Jahren verlorengegangen. Es bezeichnete ursprünglich jemanden, der eingefahrene Denkwege verlässt und ewige Wahrheiten infrage stellt.

Der studierte Fachlehrer für Mathe und Physik arbeitete als Privatlehrer und später am Berner Patentamt. Nebenbei befasste er sich intensiv mit theoretischen Problemen der Physik. „Bei seinen vielfältigen Überlegungen war ihm schon als Jugendlicher so mancher Widerspruch zwischen den Gesetzen der Newton’schen Mechanik und der Elektrodynamik von James Clerk Maxwell aufgefallen“, schreibt Bührke. „Zum Beispiel schien das eherne Gesetz von der Addition der Geschwindigkeiten für einen Lichtstrahl nicht zu gelten. Einsteins kühne Lösung hieß: Newton hatte unrecht.“

Man muss sich klarmachen, was das bedeutete: Einstein war im Grunde ein Niemand. Er saß auf keinem der renommierten Lehrstühle – und stellte dennoch Giganten wie Newton infrage. Nicht wenige hätten ihn damals gewiss als „Schwurbler“ bezeichnet, wenn das Wort schon modern gewesen wäre.

„Quasi aus dem Nichts“ habe Einstein im Jahre 1905 bei den Annalen der Physik „vier grandiose Arbeiten“ eingereicht, schreibt Bührke. „Man spricht deswegen heute von Einsteins Wunderjahr, dem annus mirabilis.“ In seiner Speziellen Relativitätstheorie räumte Einstein laut Bührke „mit überkommenem Gedankengut auf und revolutionierte die Vorstellung von Raum und Zeit“.

Obwohl sich bald Kollegen wie Max Planck und Max von Laue meldeten, von einer „kopernikanischen Tat“ oder von einer alles übertreffenden „Kühnheit“ sprachen, dauerte es seit dem „Wunderjahr“ 1905 noch vier Jahre, bis Einstein an der Universität Zürich eine außerordentliche Professor erhielt.

Bei seinen weiteren Forschungen – zu einer neuen Theorie der Schwerkraft – warnten ihn Kollegen davor, sich zu verirren. Die Newton’sche Theorie der Schwerkraft war allgemein anerkannt. Hier konnte sich Einstein nur den Kopf einrennen, dachten wohl die meisten. „Als alter Freund muss ich Ihnen davon abraten, weil Sie einerseits nicht durchkommen werden; und wenn Sie durchkommen, wird Ihnen niemand glauben“, warnte ihn zum Beispiel Max Planck.

Im November 1915 präsentierte Einstein dann – nach acht Jahren intensiver Arbeit – in der Preußischen Akademie der Wissenschaften in Berlin seine Allgemeine Relativitätstheorie, in der er seine „revolutionäre Vorstellung einer relativen Zeit und eines gekrümmten Raums als Ursache für die Schwerkraft“ zusammenfasste.

Bis heute ist es für viele Menschen kaum zu verstehen, dass jeder Körper den Raum um sich herum krümmt („wie eine Kugel auf einem Tuch um sich herum eine Mulde erzeugt“), dass Gravitationsfelder die Zeit verändern und dass der Raumkrümmung alles folgen muss – auch das Licht. Genau diese kühne Theorie wurde bestätigt, als sich am 29. Mai 1919 in den Tropen eine totale Sonnenfinsternis ereignete. Zwei Expeditionen wurden ausgesandt. Und tatsächlich bestätigten die Messungen, dass das Licht ferner Sterne im Schwerefeld der Sonne abgelenkt wird.

Mit einem Schlag war Einstein berühmt. Man feierte ihn als den „neuen Newton“. Doch er wurde auch stark angegriffen. „Verwirrte Laien und frustrierte Hobbyforscher zogen gegen die unanschauliche, mathematisch komplizierte und unverständliche Theorie zu Felde“, schreibt Bührke. So befassten sich „Welträtsellöser“ wie Ingenieure, Ärzte, Kaufleute und Schriftsteller mit Einsteins Theorie, die ansonsten von theoretischer Physik keine Ahnung hatten. Das hatte durchaus gewisse Ähnlichkeit mit den jüngsten Laien-Debatten über Virologie und Klimaforschung.

So schrieb zum Beispiel 1923 der Schriftsteller Alfred Döblin im Berliner Tageblatt über „die abscheuliche Relativitätstheorie“. Er lasse sich nicht um sein angeborenes Recht auf Erkenntnis der Welt prellen, und es seien „die Hierarchie der Wissenschaftler, der Geheimbund, die Verschwörung und Freimaurerei der Mathematiker“, die die Menschen dazu drängten, Einsteins Lehre ernst und wichtig zu nehmen, so Döblin.

Gefährlicher als solche Leute, für die das Wort „Schwurbler“ wohl wirklich passte (weil sie ohne wirkliche Kenntnis der Wissenschaft urteilten), seien für Einstein aber die Antisemiten und Nationalsozialisten gewesen, die gegen alles Pazifistische, Jüdische und Bolschewistische vorgegangen seien, schreibt Bührke. In Berlin gründete etwa ein Literat namens Paul Weyland, „Berliner Einstein-Töter“ genannt, eine „Arbeitsgemeinschaft deutscher Naturforscher zur Erhaltung reiner Wissenschaften e. V.“

Die Gegner warfen Einstein „wissenschaftlichen Dadaismus“, „mathematische Märchen“, „Vergewaltigung der Physik“ oder „Massensuggestion“ vor. Und sogar Nobelpreisträger wie die Physiker Philipp Lenard und Johannes Stark stimmten darin ein. Sie waren beide Vorreiter eine nationalsozialistisch geprägten sogenannten Deutschen Physik. Von Lenard stammt der Satz: „Wissenschaft ist, wie alles was Menschen hervorbringen, rassisch, blutmäßig bedingt“.

Einstein wurde als Wissenschaftler, Jude, Pazifist und „eine Art Obersozi“ (wie er von sich selbst sagte) angegriffen. Mehrfach geriet er in Gefahr, stand kurz vor der Auswanderung. Nachdem Hitler zum Reichskanzler ernannt worden war, verkündete Einstein im März 1933 bei einem Aufenthalt in den USA, nicht mehr nach Deutschland zurückzukehren. Aber auch in den USA geriet er später in Gefahr. So wurde er in der McCarthy-Ära vom FBI überwacht, als angeblicher Kommunistenfreund und möglicher Spion.

Einstein starb 1955, aber die Frage ist: Wie würde es ihm heute ergehen? In der Wissenschaftsgeschichte hat er eine überragende Stellung, auf der Ebene eines Newton oder Kepler. Inzwischen haben sich seine Theorien auch in Messungen und Beobachtungen bestätigt. „Die Allgemeine Relativitätstheorie ist heute eines der Fundamente der modernen Physik“, schreibt Bührke. „Viele vorhergesagte Phänomene wurden erst nach Einsteins Tod entdeckt. Dazu gehören Schwarze Löcher, Gravitationswellen, Gravitationslinsen, die sich mit rotierenden Himmelskörpern mitdrehende Raumzeit und vieles mehr.“

Einstein heute wegen seiner Theorien anzugreifen, wie es damals geschah, wäre also sehr unglaubwürdig. Obwohl sich auch Einstein irrte. Bei der Suche nach einer einheitlichen Weltformel, die die verschiedenen Welten der Gravitation und der Quantenphysik vereint, scheiterte er zum Beispiel. Bis heute ist die Schaffung dieser einheitlichen Theorie nicht geglückt.

Allerdings ist heute die Situation auch eine andere. Anders als zu Zeit des Einstein-Booms reden nur noch wenige Leute auf dem Gebiet der theoretischen Physik mit. Diese gibt kaum Anlass für große Chat-Schlachten in den sozialen Medien. Andere Themen stehen im Mittelpunkt: etwa Corona und der Klimawandel. Man weiß nicht genau, wie Einstein sich zu diesen Themen äußern würde. Interessant wäre es. Man kann aber davon ausgehen, dass es auf wissenschaftlichen Grundlagen fußen würde.

Möglicherweise würde Einstein alle „verwirrten Laien und frustrierten Hobbyforscher“, die sich ohne wirkliche Kenntnis der Materie an Theorien abarbeiten, heute selbst als „Schwurbler“ bezeichnen. Er selbst aber – und das ist wichtig – war das genaue Gegenteil. Denn sein „Querdenken“ im positiven Sinne kam ja nicht aus dem Bauch heraus. Er schmiss nicht einfach die bisherige wissenschaftliche Erkenntnis um, behauptete irgendetwas, verbreitete Dinge aus zweiter Hand, sondern baute gründlich auf dem Wissen der Zeit auf. Wer in der Wissenschaft wirklich Neues schaffen will, muss ein genauer Kenner der Materie sein. Und auch wissen, wo es Lücken im Wissen gibt, wo Aussagen nicht valide sind oder sein können.

 

Wissenschaft als Plackerei

 

Als Student habe „Einstein zu Hause die Meister der theoretischen Physik ,mit heiligem Eifer‘“ studiert, schreibt Bührke. „Mit äußerster Intensität arbeitete er in jeder verfügbaren Stunde an mehreren Fragen gleichzeitig.“ Bei der Arbeit an der Allgemeinen Relativitätstheorie verrannte er sich in Sackgassen, schlug sich mit der Mathematik herum, „die bis dahin kein Physiker verwendet hatte“. Doch er plagte sich, trieb Raubbau an seiner Gesundheit, rauchte „wie ein Schlot“, schlief unregelmäßig. „Einstein steckt offenbar so tief in der Gravitation, dass er für alles andere taub ist“, schrieb ein Kollege.

Dies ist auch eine Lehre aus der Corona-Debatte. Man muss ernsthaft nach Erkenntnis streben, darf nicht einfach andere Sichten aus ideologischen Gründen diffamieren, sondern muss daran arbeiten, sie wissenschaftlich seriös zu widerlegen. Wichtige Stichworte sind hier: Validität, Objektivität, Reliabilität und Evidenz.

Zugleich zeigte schon Einsteins Leben das, was in jüngster Zeit viele Forscher erlebten: Wer als Wissenschaftler weit herausragt, wird zur Zielscheibe, aus ganz verschiedenen Gründen. Denn der Streit der Meinungen und der wissenschaftlichen Theorien wird immer auch durch Strömungen und Entwicklungen in der Gesellschaft beeinflusst. So wurde Einstein ja sehr stark auch aus politischen Gründen angegriffen, aufgrund von Vorurteilen, von Nationalismus und Antisemitismus. Und weil er eine eigene politische Haltung hatte, die vielen nicht passte.

Einstein unterstützte Kriegsdienstverweigerer, unterzeichnete pazifistische Appelle, rief dazu auf, gemeinsam gegen den Faschismus vorzugehen. Nach den ersten Abwürfen von Atombomben über Japan 1945 warnte er vor dem Wahnwitz eines Atomkriegs, etwa 1955 mit dem „Einstein-Russell-Manifest“. Er beklagte unter anderem, „dass man nichts getan habe, um Russlands Misstrauen zu mildern, und zeigte Verständnis für Nationen, die Angst vor einem imperialistischen Machtstreben der USA haben“, wie Bührke schreibt.

Wahrscheinlich hätte er heute auch seine eigene Meinung zu den Vorgängen auf der Welt – nach einer Analyse, die er gewiss für sich vornehmen würde. Und mancher, der anderer Meinung ist, würde ihn vielleicht deswegen als „Schwurbler“ bezeichnen. Das wäre ein Vorwurf, der jede weitere sachliche Debatte abblockt. So wie man es heute oft erlebt. Obwohl offene sachliche Debatten über viele Themen dringend notwendig sind.

 

Thomas Bührke: Die Verfolgten. Geniale und geächtete Wissenschaftler von Giordano Bruno bis Alan Turin, Klett-Cotta, Stuttgart 2022, 304 Seiten, 22,00 Euro.

 

Berliner Zeitung, 21.09.2023. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Verlages.