26. Jahrgang | Nummer 19 | 11. September 2023

Der Platz am Bahnhof Lichtenberg

von Hans-Jürgen Schwebke

Auf der Lärmschutzwand der Deutschen Bahn am Vorplatz des Bahnhofs Lichtenberg in Berlin ist ein 70 Meter langes Wandgemälde eingeweiht worden. Es entstand in Erinnerung an den tragischen Tod Eugeniu Botnaris. Der war im Jahre 2015 gemeinsam mit Ehefrau Oxana auf beschwerlichem Weg aus der Republik Moldau nach Deutschland gekommen. Der Traum von einem besseren Leben – Familie, Haus, Arbeit – hatte sie aus dem kleinen Strășeni in Zentralmoldau nach Berlin getrieben. Der kleine Sohn sollte zunächst bei Verwandten in der Heimat bleiben. Oxana B. gelang es schnell, die deutsche Sprache zu erlernen, eine Arbeit in einem Hotel zu finden und mit Hilfe ihres Arbeitgebers eine kleine Wohnung mit der Familie zu beziehen. Eugeniu versuchte es als Helfer auf dem Bau, scheiterte aber an mangelnden Sprachkenntnissen, sozialer Ausgrenzung und seiner offensichtlichen Alkoholerkrankung.

Das Paar trennte sich nach häufigen Streitigkeiten. Eugeniu wurde arbeits- und dann obdachlos, verfiel seiner Trunksucht und beging zu deren Befriedigung wiederholt Diebstahl. Als der Filialleiter des Edeka-Supermarktes im Bahnhof Lichtenberg ihn bei der Absicht, eine Flasche Weinbrand einzustecken, auf einer der 38 Überwachungskameras im Laden sah, zog er ihn in einen der hinteren Lagerräume. Dort attackierte er ihn dermaßen, dass das Opfer drei Tage später, am 20. September 2016, an einer Hirnblutung verstarb.

Der Filialleiter handelte aus rechter, rassistischer Gesinnung. Er wurde im Jahr 2017 rechtskräftig zu drei Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. Der Richter wollte die offensichtliche Selbstjustiz des Angeklagten nicht legitimieren, verwies auf die Zuständigkeit der Polizei für Eigentumsdelikte und die Rechtsstaatlichkeit.

Noch am Morgen vor der menschenverachtenden Prügelattacke hatten Oxana und Eugeniu B. telefonisch ein Treffen für den Abend verabredet. Sie wollte ihrem Mann vorschlagen, in die Heimat zurückzukehren. Zurück in das alte, das ärmliche Leben, das sie für ihren Traum aufgegeben hatten, das ihr nun aber besser erschien als dieses Leben in Deutschland. Statt den Sohn nach Berlin nachholen zu können, brachte die Mutter seinen Vater nur noch tot nach Hause.

Jahrelang kämpften Bürgerinnen und Bürger, Initiativen, Verbände und Parteien für ein sichtbares Zeichen der Mahnung und Erinnerung an die Opfer rechter, rassistischer und klassistischer Gewalt in Lichtenberg. Menschen gingen für ein zutiefst humanistisches Anliegen auf die Straße. Und der Druck wirkte. Im Frühjahr 2023 fasste die Bezirksverordnetenversammlung, anschließend auch das Bezirksamt Lichtenberg, mit den Stimmen von SPD, Linken und Grünen, gegen das Votum von CDU, FDP und AFD, den Beschluss, dass der Vorplatz des Bahnhofs Lichtenberg nach Eugeniu Botnari benannt werden solle. Dass der Platz nun den Namen erhält, macht auch das neue Wandgemälde der Künstler Tanja K., Anne Bengard, Sebastian G., Philipp Beatsen und Ismail Schuhmacher deutlich. Dem Projekt „Graffiti und Streetart in Gedenken an Opfer rechter Gewalt – Ein Gedenkmural in Lichtenberg“ ging es darum, die Lärmschutzmauer am S-Bahnhof Lichtenberg mit rassismuskritischen Graffiti zu gestalten und mit dem großflächigen Mural einen Ort des Gedenkens an Opfer rechter Gewalt im Bezirk zu schaffen. Es entstand in Kooperation von Bezirksamt, Deutscher Bahn AG, dem Register Lichtenberg/Lichtblick und Bewohnern des Weitlingkiezes. Gefördert wurde das Wandgemälde vom „Aktionsfonds Lichtenberg/Partnerschaften für Demokratie“. Die Deutsche Bahn AG stellte die Lärmschutzmauer nicht nur zur Verfügung, sondern sanierte sie, bevor die Künstler mit ihrer Arbeit begannen. Das Bezirksamt finanzierte nach der Fertigstellung des Gemäldes einen Graffitischutz.

Nach der öffentlichen Verlautbarung im Amtsblatt der Stadt Berlin, wonach der bisher namenlose Vorplatz des Bahnhofs Lichtenberg nunmehr den Namen „Eugeniu-Botnari-Platz“ erhält, kam es jedoch zu einer Welle rassistischer und klassistischer Hetze in verschiedenen Medien, auf „sozialen“ Plattformen, auch in Politikerkreisen. Hasserfüllten Kommentaren zufolge ehre die Stadt Berlin einen „kriminellen Migranten“, „Schnaps-Ladendieb“, „migrantischen Ladendieb“, „Langfinger“, „Schwerverbrecher“, „Tunichtgut“, „obdachlosen Ladendieb“, „betrunkenen Ladendieb“, „Alkoholiker, der kein guter Mann war“, „obdachlosen Kriminellen“, „totgeprügelten Ladendieb“, „moldawischen Ladendieb“, „toten Ladendieb“, „ein angebliches ‚Opfer rechter Gewalt‘“, „Schwarzafrikaner“, ein „Opfer bei Tätereignung“, einen, der „Woanders ein Paria – in Berlin ein Held! [ist]“.

Schlagwörter und fertige Urteile statt Erklärungen, schließlich Verurteilungen, die im äußersten Fall in Selbstjustiz münden können. Die Wirklichkeit menschlichen Daseins wird auf Schlagwörter verengt, die tatsächlich erschlagen.

Zu Lebzeiten war Botnari mit seinem Überlebenswillen und seinen Missgeschicken unsichtbar geblieben. Nach seinem gewaltsamen Tod wurde er in Internet-Kommentaren, Diskussionsrunden, Publikationen wieder sichtbar – stellvertretend für viele gesellschaftlich marginalisierte, als fremd und widerwärtig diffamierte, rassistisch stigmatisierte Menschen, wie sie dort am Bahnhof Lichtenberg wie an ungezählten anderen Orten in ganz Deutschland leben, verachtet, erniedrigt, angezündet oder gar totgeschlagen werden. Geflüchtete, Arme, Alkoholkranke, Muslime … erscheinen in dieser Sichtweise nicht mehr als Individuen, sondern kollektiv als Terroristen, Diebe, Vergewaltiger, Barbaren, Rückständige, Schmarotzer an den sozialen Systemen, als „die, die uns die Arbeit wegnehmen“.

Geplant ist in Lichtenberg auch eine Gedenktafel für die Opfer rechter Gewalt mit der Nennung ihrer Namen. Berlin hat damit, noch einmalig in Deutschland, einen Platz der Humanität und der Solidarität, der Erinnerung und der Mahnung sowie großer Sichtbarkeit jener Menschen, vor denen Passanten meist ausweichen, vor denen sie die Augen verschließen oder denen sie mit Hass begegnen. Die Entscheidung des Bezirks Lichtenberg vom April 2023 war daher eine verdiente, notwendige und mutige.

 

Hans-Jürgen Schwebke, Jahrgang 1957, ist Diplomstaatswissenschaftler und lebt als freier Autor in Berlin.