Eine realistische Sichtweise der internationalen Politik wird anerkennen müssen, dass sich die Vorstellung westlicher Regierungen, allen voran der USA, nach dem Zerfall der Sowjetunion Strukturen im Weltstaatensystem schaffen zu können, die die westliche Vorherrschaft festschreiben, als Illusion erwiesen hat. Während manche Historiker, wie z.B. Francis Fukuyama, sogar vom „Ende der Geschichte“ sprachen und einige politische Kommentatoren, wie z.B. William Wohlforth, erwarteten, dass angesichts der Machtfülle der USA und der Anziehungskraft der westlichen Staatenwelt keine Alternative mehr zu dieser Ordnung entstehen könnte, verlief die politische Entwicklung des Weltstaatensystems ganz anders. Wir bekamen in eindrucksvoller Weise vorgeführt, dass „die Geschichte“ eben nicht geradlinig verläuft.
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Während die USA und deren Partnerstaaten ihre Macht in den internationalen Institutionen dafür einsetzten, die westliche Herrschaftsform zu verbreiten und auf viele andere Staaten Einfluss zu nehmen, traf diese Form der Politik recht bald auf entschiedenen Widerstand. Nicht nur Staaten wie das nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion neu formierte Russland und das machtpolitisch aufsteigende China, sondern auch zahlreiche Staaten in Afrika und Südamerika verbaten sich aus den unterschiedlichsten Gründen die Einmischung führender westlicher Länder in ihre Angelegenheiten. Angesichts des enormen wirtschaftlichen Wachstums und des beeindruckenden politischen Selbstbewusstseins engagierte sich vor allem China weltweit als Gegenmacht zu den USA und fand zunehmend Partner, die vergleichbare Interessen verfolgten. Insbesondere in dem seit der Jahrtausendwende machtpolitisch wieder aufstrebenden Russland unter der Führung von Staatspräsident Wladimir Putin und in bedeutenden Staaten Afrikas, Asiens und Südamerikas entwickelte sich eine fühlbare Bereitschaft, China als Alternative zu den führenden westlichen Staaten zu akzeptieren. So kam es vor dem Hintergrund der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung nicht von ungefähr, dass sich Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika im Jahre 2009 als politische Gruppe zusammenfanden und seitdem unter dem Kürzel BRICS als Handlungseinheit auftreten. Dabei war von Anfang an klar, dass die seit Beginn der engen Kooperation zunehmende Bedeutung dieses Zusammenschlusses ohne den phänomenalen machtpolitischen Aufstieg Chinas nicht denkbar gewesen wäre.
Wenngleich bei dem Streben, alternative Handlungsmöglichkeiten zu den von den USA und deren westlichen Partnern dominierten internationalen Institutionen zu schaffen, zunächst die wirtschaftlichen Aspekte im Vordergrund standen, entwickelten die BRICS-Staaten in immer stärkerem Maße vielfältige Aktivitäten im Bereich der Außenpolitik und der Finanzpolitik, die es erlaubten, ihre Interessen durchzusetzen und den Einfluss der westlichen Länder zu schmälern. Nicht zuletzt ist es den BRICS-Staaten in den wenigen Jahren des Bestehens ihrer engen Kooperation gelungen, die Unterhöhlung ihrer Souveränität abzuwehren und die politische Einmischung seitens der USA und anderer westlicher Länder zurückzuweisen. Die vielfach geübte politische Praxis von hochrangigen Repräsentanten westlicher Regierungen, etwa über das Verlangen nach Einhaltung „der Menschenrechte“ und anderer „Normen“ auf die Politik anderer Staaten Einfluss zu nehmen, ist – wie man täglich beobachten kann – nicht nur schwieriger geworden. Die BRICS-Staaten beharren auch darauf, dass die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates ein wesentlicher Bestandteil der neuen Weltordnung ist. Auch die von führenden westlichen Ländern ins Spiel gebrachte völkerrechtliche Konstruktion der „humanitären Intervention“, die es erlauben sollte, in innerstaatliche Konflikte sogar mit militärischen Mitteln einzugreifen, wurde von den BRICS-Staaten zurückgewiesen. Dies war nur konsequent, da die BRICS-Staaten befürchten mussten, selbst zum Objekt der Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten zu werden. Sie finden zudem mit ihrer spezifischen Haltung im Hinblick auf die gesellschaftspolitischen Vorstellungen und Forderungen seitens der westlichen Länder leichteren Zugang zu den auf ihre nationale Souveränität bedachten Staaten Afrikas, Asiens und Südamerikas. Das zunehmende Interesse zahlreicher Länder aus diesen Weltregionen an einem Beitritt zum Kreis der BRICS-Organisation unterstreicht diesen Trend auf eindrucksvolle Weise.
Die im Zuge der politischen Auseinandersetzungen über die Normen und Regeln der internationalen Politik auftretenden Konflikte zeigen uns immer wieder, wie stark sich das internationale System in jüngster Zeit verändert hat und welche Tendenzen sich wohl in naher Zukunft durchsetzen werden. Die bisher schon von den BRICS-Staaten erreichten Veränderungen im internationalen System und die sichtbaren Erfolge ihrer Anstrengungen lassen erwarten, dass der Wandel der Machtverhältnisse und die immer deutlicher hervortretenden neuen Formen der Konfliktaustragung die internationale Politik bestimmen werden.
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Vor dem Hintergrund des Wandels der bislang von den führenden westlichen Ländern dominierten internationalen Institutionen und der selbstbewussten Vorgehensweisen der BRICS-Staaten werden wir mit neuen Formen der Kooperation und der Konflikte in der internationalen Politik rechnen müssen. Wenngleich China und Russland, aber auch Brasilien, Indien und Südafrika die Vereinten Nationen als eine Institution ansehen, die vorrangig den Interessen führender westlicher Länder dient, werden diese fünf Staaten ihre Position in dieser Organisation zu nutzen wissen, um alternativen Kooperationen Raum zu geben und neue Formen der Gegenmachtbildung zu erproben. Anders als die Repräsentanten der führenden westlichen Länder erwartet haben, deutet sich ein Trend an, dass die BRICS-Staaten in strittigen Fragen der internationalen Politik die Initiative ergreifen, neue Maßstäbe setzen und gelegentlich sogar ihre Fähigkeit demonstrieren, die „alten Führungsmächte“ zur Kooperation zu zwingen. Dabei dürfte es angesichts der wachsenden Machtfülle der BRICS-Staaten künftig immer häufiger vorkommen, dass die neue Art der internationalen Kooperation außerhalb der alten, von den westlichen Ländern dominierten Institutionen stattfindet. Die früher dominierende institutionelle Macht wird im Zuge dieser Entwicklung allmählich schwinden. Stattdessen dürfte sich die internationale Kooperation auf bestimmte, relativ klar umrissene Problembereiche konzentrieren, in deren Rahmen sich die BRICS-Staaten mit ihren spezifischen Interessen eher durchsetzen können.
Der Trend zum Wandel des internationalen Systems und zur Veränderung der internationalen Politik geht inzwischen weit über den Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik hinaus. Das zunehmende Drängen der BRICS-Staaten auf eine deutliche Veränderung der Struktur der von den USA und anderen westlichen Ländern dominierten internationalen Finanzinstitutionen, wie z.B. des IWF, ist hierfür charakteristisch. Vor dem Hintergrund der erheblich gewachsenen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der BRICS-Staaten, und hier vor allem Chinas, wird man wohl dem Reformbedarf mit Blick auf die regionalen und weltweiten Organisationen nachgeben und die Machtverteilung neu regeln müssen. Dabei kommt die seit einigen Jahren schon stattfindende und wohl anhaltende Tendenz zur Re-Nationalisierung den Interessen der BRICS-Staaten durchaus entgegen. In Afrika, in Südamerika, in manchen Regionen Asiens und selbst in Europa ist dieser Trend unverkennbar. Er bietet geeignete Anknüpfungspunkte für die eigenen Interessen und wird auch schon genutzt, um die Handlungsmöglichkeiten der „alten Führungsmächte“ zu schmälern. Es überrascht in diesem Zusammenhang nicht, dass die Tendenz zur Nationalisierung in Russland und China besonders ausgeprägt in Erscheinung tritt. Die hierbei verwandte Rhetorik und das konkrete politische Handeln richten sich gegen „den Westen“, insbesondere aber gegen die Führungsmacht USA. Vor diesem Hintergrund erscheint es auch folgerichtig, dass Russlands Krieg um die politische Zuordnung der Ukraine von den übrigen BRICS-Staaten nicht verurteilt wird. Selbst Indien, das sich derzeit in einem bemerkenswerten wirtschaftlichen Aufstieg befindet, ordnet sich in die Tendenz zur Delegitimierung und Unterminierung der westlich dominierten Weltordnung ein und unternimmt große Anstrengungen, um seine nationalen Interessen zu wahren. Mit Blick auf die zukünftige Entwicklung der internationalen Politik und insbesondere den Konflikt Russlands mit den NATO-Ländern um die Ukraine sollten wir davon ausgehen, dass Russland von den übrigen BRICS-Staaten weiterhin unterstützt wird und vor allem bei der Abwehr der von den westlichen Ländern verhängten vielfältigen Sanktionen Rückendeckung erfährt.
Im Zuge des Strebens nach einer neuen Weltordnung, die ihren nationalen Interessen und ihrem Selbstverständnis entspricht, dürften insbesondere China und Russland dazu neigen, zumindest in ihrem nahen geographischen Umfeld auch zu militärischen Mitteln zu greifen, um ihre machtpolitischen Ziele zu erreichen. Sie können dabei von dem Tatbestand profitieren, dass es selbst im Kreise der westlichen Länder keine gemeinsame Idee von einer globalen Ordnung gibt und die Handlungsfähigkeit der westlichen Länder zunehmend dadurch eingeschränkt wird, dass es nicht gelingt, die vorhandenen militärischen Mittel sinnvoll einzusetzen bzw. die gewünschten Ergebnisse mit deren Einsatz zu erzielen.
Auch im Bereich der Wirtschaft werden die BRICS-Staaten ihre Machtmittel zur Durchsetzung ihrer Interessen konsequent anwenden und ihre Handlungsmöglichkeiten künftig noch erweitern können. Der zunehmende Einfluss insbesondere der führenden BRICS-Staaten China und Russland in Asien, Afrika und Südamerika unterstreicht dies noch. Hier bilden sich derzeit schon Strukturen heraus, denen die westlichen Länder wenig entgegensetzen können. Der Prozess der Gegenmachtbildung zum Westen insgesamt, erst recht aber gegenüber den USA, verläuft bemerkenswert schnell und dürfte ein Charakteristikum der kommenden Jahre sein. Die BRICS-Staaten handeln in diesem Kontext sehr zielbewusst und lassen sich nicht von fragwürdigen Ideologien und politischen Ansprüchen stören, die den westlichen Ländern immer wieder Schranken setzen. Die westliche Führungsmacht USA, aber auch europäische Länder wie die Bundesrepublik Deutschland, werden sich auf diese bedeutsame Entwicklung in realistischer Weise einstellen müssen. Man sollte dabei nicht auf eine grundlegende Reform globaler Institutionen hoffen, die darauf zielt, einen neuen rechtlichen Rahmen zu setzen, der die Interessen der westlichen Länder widerspiegelt. Diese Zeiten sind vorbei. Stattdessen können wir beobachten, dass die BRICS-Staaten unter der Führung Chinas und Russlands in der Lage zu sein scheinen, eine deutliche Machtverschiebung im internationalen System zu erreichen. Die künftige Ausgestaltung der BRICS-Staatengemeinschaft und deren weiteres Vorgehen dürften wohl im Zuge des Gipfeltreffens vom 22. bis 24. August 2023 in Südafrika erkennbar werden.
Schlagwörter: BRICS Staaten, Walter Schilling, Weltordnung, Westen