…nur der Verstörte wagt zu stören
Robert Jungk
Im Leben und Wirken des Philosophen, Publizisten, Friedens- und Zukunftsforschers, des Pioniers der Anti-Atomwaffen-, Anti-AKW-, und Umweltbewegung Robert Jungk spiegelt sich das 20. Jahrhundert mit all seinen Katastrophen und Umbrüchen besonders klar. Jungk wurde am 11. Mai 1913 als Robert Baum, Kind assimilierter Juden, in Berlin geboren. Da sein Vater David Baum aus der Tschechoslowakei – damals Teil der Habsburger Monarchie – stammte, bekam auch Jungk die österreichische Staatsbürgerschaft. Beide Eltern waren Schauspieler. Der Vater, mit Künstlernamen Max Jungk, überdies Dramaturg und Regisseur. Die Mutter Sara Bravo führte den Künstlernamen Elli Branden.
Bereits ab 1933 – nach einer Inhaftierung – mit 20 Jahren zur Flucht aus seiner Heimatstadt Berlin gezwungen, war Robert Jungk sein ganzes Leben lang unterwegs. Überall in der Welt. Im Schweizer Exil schrieb er zwischen 1939 und 1944, da Flüchtlingen die Berufsausübung verboten war, unter mehreren Pseudonymen, vor allem für die Weltwoche Berichte über den Terror des NS‑Regimes. Sonst rare zuverlässige Informationsquellen in Deutschland ermöglichten ihm diese viel diskutierten Artikel. Als er jedoch als erster über die Gräuel in den Konzentrationslagern berichten wollte, wurde dies zunächst selbst seitens französischer, amerikanischer und englischer Zeitungen abgelehnt. Solch planmäßigen Massenmord trauten sie nicht einmal der „Hitlerbande“ zu.
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Nach dem Zweiten Weltkrieg durchleuchtete Jungk die rasanten, vielfach fragwürdigen wissenschaftlichen und technischen Entwicklungen in den USA. Es gab wohl nur wenige, die sich so akribisch und kritisch in diese Thematik vertieften. Wenige, die mit Atomforschern so eingehende Gespräche führten. Wenige, die die Menschen und ihr Schicksal in Hiroshima nach dem Atombombenabwurf so gut kennenlernten. Wenige, die ab 1959 so vehement zu den Ostermärschen gegen die Atombewaffnung Westeuropas aufriefen und daran teilnahmen. Wenige, die ab 1976 so oft als Redner an den zahlreichen Anti-AKW-Demonstrationen und -Blockaden in Wyhl, Brokdorf, Wackersdorf, Gorleben und Kalkar auftraten. Wenige, die so leidenschaftlich forschten, recherchierten, publizierten – über 4,5 Millionen Exemplare seiner Bücher wurden weltweit verbreitet. Wenige, die ihre Erkenntnisse so freudvoll zur Debatte stellten. Vor allem wenige, die so unermüdlich in der ganzen Welt unterwegs waren, um sich mit Menschen aus allen Schichten auszutauschen. Wenige, die so unverdrossen ermutigten und in sogenannten Zukunftswerkstätten anregten, die Entscheidungen über unser Leben selbst in die Hand zu nehmen.
Als einer der ersten Zukunftsforscher im deutschsprachigen Raum wurde Jungk bezeichnet, obwohl er diesen Begriff unpassend fand. Er würde suggerieren, wie Naturforscher, objektiv richtige und beweisbare Aussagen über das Kommende machen zu können. Er wollte sich jedoch vielmehr „mit ganz unzeitgemäßen Wünschen und Vorstellungen beschäftigen, die einer vorwiegend aufs Humane und Soziale gerichteten Phantasie entsprächen“. Immer mit der Perspektive einer radikal anderen Lebensweise. Parlamentarismus sei zu wenig. Wahlen bezeichnete Jungk als „demokratischen Analphabetismus“. Warum sollten die Menschen nicht selber Ideen entwickeln und erproben dürfen?
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Grundlegende Erkenntnisse, das Fundament seines Wirkens, hat Jungk bereits 1952 in seinem ersten Buch „Die Zukunft hat schon begonnen – Amerikas Allmacht und Ohnmacht“ veröffentlicht. – Dieses Werk war übrigens für Günther Anders eine entscheidende Anregung zu seinem ersten Band der „Antiquiertheit des Menschen“. Die beiden Philosophen waren einander bis dahin noch nicht persönlich begegnet. Später wurden sie gute Freunde. – Scharfsinnig und hellsichtig beschreibt Jungk in „Die Zukunft hat schon begonnen“ die Hybris, die sich damals längst ausgebreitet hatte und heute im Jahr 2023 gerade einen gewaltigen Sprung nach vorne macht. Es geht nicht nur um den „Griff nach dem Atom“, sondern auch um den „Griff nach der Natur, nach dem Menschen, nach dem Weltraum, nach dem Geist, nach der Zukunft“. In den USA stieß Jungk aber auch auf Wissenschaftler, die im „Griff nach der Allmacht“ bereits große Gefahren erkannten. Er zitiert eine treffende Kritik, die Mitglieder des Institute of Advanced Study in Princeton, New Jersey übten: „Wir haben mit den Mächtigen paktiert und uns von ihnen für ihre Ziele einspannen lassen. Wir lehnen die Prätention der angewandten Wissenschaft ab, denn die Technik, die Atomindustrie, die in die Natur eingreifende Biologie, die menschensortierende und praktische Psychologie haben den Weg der Wahrheit verlassen und sich zu Instrumenten der Versklavung machen lassen. Indem sie der Unmenschlichkeit Vorschub leisten, gefährden sie die Quelle jeden möglichen wirklichen Fortschritts: die furchtlos fühlende und denkende Persönlichkeit.“
In seiner Autobiografie „Trotzdem“ gibt Jungk Worte von Pierre Fornallaz wieder, die er als für ihn wegweisend bezeichnet. Fornallaz war Professor an der Technischen Hochschule in Zürich. Aber wie viele andere zwischen 1975 und 1985 gründete er ein eigenes Umweltinstitut, weil es an den Universitäten nicht möglich war, die drängenden Fragen zu behandeln. „Es gibt in der Wissenschaft in Fragen, die das Leben betreffen, keine Objektivität. Es gibt nur Lehrmeinungen. Deshalb dürfen wir unsere Entscheidungen nicht an Experten delegieren, sondern müssen selbst entscheiden.“
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Diese beiden Zitate können geradewegs an all jene gerichtet werden, die heute die Wissenschaft beschwören. Nämlich die eine, die einzig wahre, gute und objektive Wissenschaft, über die autorisierte oder selbsternannte Faktenchecker wachen. Wo hat es jemals eine solche Wissenschaft gegeben? Aber jene, die diese bevollmächtigte Wissenschaft kritisieren oder sie auch nur nicht genug bejubeln, werden als Wissenschaftsskeptiker verunglimpft, die angeblich außerdem demokratiefeindlich seien. Das EU-Barometer hat in Österreich besonders viele davon verortet. Deshalb werden hierzulande eifrig Maßnahmen ersonnen, diese „Ignoranten“, „Scharlatane“, „Schwurbler“ und andere Dummköpfe auf den rechten Weg zu leiten. Stets wird auch bemängelt, sie würden allzu einfache Erklärungen für komplexe Probleme verbreiten. Das kommt wohl auch vor. Aber warum wird all den differenzierenden Kritikerinnen ebenfalls der Mund verboten? Zwar genau von jenen, die selber in haarsträubendster Simplifizierung „die Wissenschaft“ wie einen Fetisch vor sich her tragen.
Jungk und seine zahlreichen Mitstreitenden – darunter Ivan Illich, Erwin Chargaff, Günther Anders, Heinrich Böll, der Friedensforscher Johan Galtung, die beiden small is beautiful Erkenner Ernst Friedrich Schuhmacher und Leopold Kohr, oder Freimut Duve, der Herausgeber der auflagenstarken Buchreihe rororo aktuell – sie alle wurden einst als bedeutsame Querdenker tituliert. Unter ihnen ein Nobelpreisträger und drei Träger des Right Livelihood Award – Jungk war einer davon. Ihre radikale Kritik an lebensfeindlichen Systemen, Strukturen und Techniken wurde als unerlässlich erachtet. Wer es hingegen heute wagt, sich quer zum herrschenden Narrativ zu positionieren, wird als Querdenker beschimpft. Weil neben den herrschen Sichtweisen keine anderen mehr möglich sind, werden aber nicht nur andere Erkenntnisse, sondern sogleich auch die Menschen, die sie äußern, unmöglich gemacht. Sie werden punziert. Sie dürfen alles geheißen werden: „Verschwörungserzähler“, „Antisemiten“, „Friedensschwurbler“, „Analogversteher“. Einmal mit tatsächlichen Obskuranten und Rechten in einen Topf geworfen, gibt es kein Entrinnen mehr. Eine wirksame Methode der Gleichschaltung. Diese neuen totalitären Tendenzen und die digitale Hybris brauchen kein Kampfgetöse, sie wirken subtil. Weniger besorgniserregend sind sie trotzdem nicht.
Streifzüge, Nr. 87 (2023). Übernahme mit freundlicher Genehmigung der Autorin und des Verlages. Auf die Wiedergabe von Zwischenüberschriften und Quellen wurde verzichtet. Online.
Dr. phil. Maria Wölflingseder, Studium der Pädagogik und Psychologie, Redaktionsmitglied der Streifzüge. Veröffentlichung von Buchbeiträgen und Lyrik.
Schlagwörter: Maria Wölflingseder, Querdenker, Robert Jungk, Zukunftsforscher