26. Jahrgang | Nummer 9 | 24. April 2023

Was für eine Zeit und Gesellschaft?

von Rolf Reißig

Das fragen sich angesichts zunehmender Krisen, Konflikte, kriegerischer Auseinandersetzungen immer mehr Menschen. Was prägt diese Zeit, was bleibt von ihr und wohin treibt diese Gesellschaft?

Eine solche Ausnahmesituation ist auch die Stunde einer kritischen, öffentlichen Soziologie. Einer, der sich hier mit Vehemenz und Sachverstand einbringt, ist Stephan Lessenich. Nach seiner Professur an der Friedrich-Schiller-Universität Jena (2004-2014) und seiner nachfolgenden Berufung an das Institut für Soziologie der Universität München (Beck-Lehrstuhl 2014-2021) wurde er 2021 zum Direktor des Instituts für Sozialforschungen (IfS) Frankfurt am Main berufen. Das IfS, verbunden mit Namen wie Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse und als „Frankfurter Schule“ der „kritischen Theorie“ weltweit bekannt geworden, begeht gerade sein 100-jähriges Jubiläum. Dies sollte Anlass sein, die Frankfurter Schule – wie Lessenich in jüngsten Interviews betont – „weiter zu profilieren“, „die Wiedersprüche der Gesellschaft wieder stärker ins Zentrum der empirischen Sozialforschung zu rücken“ und zugleich zur „Globalisierung“ dieser kritischen Theorie beizutragen.

Nach seinen Büchern – unter anderem zu „Grenzen der Demokratie“ (2019) und „Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis“ (2016) – legte er nun die Arbeit „Nicht mehr normal. Gesellschaft am Rande des Nervenzusammenbruchs“ (Ende 2022) vor. Eine Zeit- und Gesellschaftskritik, die zur Diskussion anregt, ja geradezu herausfordert – und die praktisch auch stattfindet.

Es sind vor allem drei Fragen, die Lessenich – aber genau genommen so oder so eine ganze Gesellschaft – bewegen:

Zum einen: In welcher Zeit und in welcher Gesellschaft leben wir eigentlich?

Zum anderen: Wie geht die Gesellschaft mit ihrer Krise, die inzwischen zum Normalzustand geworden ist, um?

Und schließlich: Wenn das Alte nicht mehr trägt und nicht mehr zu ertragen ist, was tritt an seine Stelle?

Bleiben wir bei der Struktur dieser Fragestellungen und suchen nach entsprechenden Überlegungen und Anregungen.

Erstens – Lessenich beschreibt die heutige Gesellschaft als Krisengesellschaft und deutet sie als Umbruchgesellschaft. Bewusst beginnt er mit der Finanzkrise, die er als den eigentlichen Übergang ins 21. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Krisen versteht; dann folgen Migrationskrise, Corona-Krise, Rohstoff- und Energiekrise, die alles überragende Klimakrise und nun noch die Ukraine-Krise.

Diese Gegenwartsgesellschaft ist nicht mehr zuerst durch Paradoxien gekennzeichnet, sondern wird durch reale Widersprüche getrieben. Diese neuen Krisen sind auch keine mehr des „normalen Wandels“ in kapitalistischen (spätkapitalistischen) Gesellschaften, sondern Anfänge einer tiefgreifenden Umwälzung, Vorzeichen eines neuen Zeitabschnitts. Damit wird eine erste spezifische Zeitdiagnose zur Diskussion gestellt.

Lessenich fasst diese veränderte gesellschaftliche Situation zunächst paradigmatisch in der vielleicht etwas eigenwilligen Formel „Nicht mehr normal“ zusammen, auch weil dies inzwischen zum Lebensgefühl einer ganzen Gesellschaft geworden ist. „Normalität“ versteht er jedoch als komplexe soziale Praxis. Neben soziologischen Kategorien kommen deshalb auch psychologische und selbst psychiatrische ins Spiel. Und Strukturanalysen verbindet er daher durchgehend mit Analysen der Gefühls- und Vorstellungswelten. Das ist vielleicht etwas ungewöhnlich, aber kein Zufall, denn Lessenichs implizierter theoretischer Ansatz greift auf Cornelius Castoriadis‘Konzeption des „gesellschaftlich Imaginären“ zurück; der Gesellschaft als den Prozess und das Ergebnis der Institution einer Welt symbolisch vermittelter Bedeutungszusammenhänge versteht. Jede Gesellschaft interpretiere die eigene Welt als ihre Welt, als die Welt; kurzum als normal, selbstverständlich und fraglos gegeben. Normalitätsvorstellungen sind so Teil der herrschenden, gesellschaftlich bestimmenden Bedeutungswelten, die aber durch schöpferisches Handeln veränderbar, gestaltbar und auch offen für Neues sind (Castoriadis).

„Stabilität“ und „Einheit“ sowie die Losungen „Keine Experimente“, „gemeinsam stark“ markierten nach Lessenich die bisherigen Normalitätsvorstellungen als kollektiven Sinnhorizont – auf der Basis ökonomischen Wachstums als Grundlage für Wohlstand, technischer Naturbeherrschung, nationaler Souveränität und kultureller Vorherrschaft. Für Lessenich war diese „schöne“ alte Normalität jedoch immer schon sozial strukturiert, differenziert und mit Gegenwelten konfrontiert.

Die bisherige Normalität ist allerdings nicht zuletzt durch die multiple Krise nun brüchig geworden, erfährt Risse, erodiert und zerbröselt; aber existiert in unterschiedlichen Formen auch weiter.

Und entscheidend: Der bisherige Zeithorizont, imaginiert als „unendliche Zeit“ des unbegrenzten Fortschritts, des unbeschränkten Wachstums, der Akkumulation und Rationalisierung, der Eroberung der Natur – kurz als Zeit der Verwirklichung einer Allmachtphantasie geht zu Ende und kehrt, so Lessenich, nicht wieder.

Zweitens – Wie aber geht die Gesellschaft nun damit um, dass die Krise zum Normalzustand geworden ist?

Zunächst rücken die Auswirkungen, die dieser Zustand auf die kollektive Gesellschaft und die Individuen, auf deren Gefühls- und Vorstellungswelten hat, in den Blick. Alte Gewissheiten sind infrage gestellt, Enttäuschungen nehmen zu, Zukunfts-Horizonte brechen flächendeckend zusammen, Hilflosigkeit in der Gesellschaft und bei den einzelnen Menschen macht sich breit; kurzum, die Voraussetzungen von Stabilität und Einheit werden erschüttert. Und der Diskurs in der Gesellschaft wird – wie sich immer deutlicher abzeichnet – rabiater, radikaler, ja aggressiver. Wenn dieses Regime eines normalisierten Imaginären nun aber zerbricht, tritt ein Nervenzusammenbruch an seine Stelle. Das öffnet Tür und Tor für unterschiedlichste Deutungen und Reaktionen.

Lessenich analysiert diese Entwicklung an den Beispielen der oben genannten Krisen. Im Umgang mit diesen Krisen entdeckt er je spezifisch-politische und soziale Reaktionen: regressive, reformerische und transformative. Hierbei sind die regressiven Bewegungen die dominanten, in Politik und Gesellschaft.

Die Bearbeitung der Konfliktstrukturen und Krisen in der Politik erfolgt auf dem Hintergrund der alten gesellschaftlichen Vorstellungen von Stabilität und Einheit. Irgendwie soll die alte Normalität (mit gewissen Modifikationen) wieder hergestellt, abgesichert und neu konstituiert werden. Verkürzt: in der Finanzkrise durch „gekaufte Zeit“ (mittels Geld und Verschuldung/Streeck), in der Migrationskrise durch „gekauften Raum“ (etwa Abkommen der EU mit der Türkei und afrikanischen Transitländern), die Energie- und Rohstoffkrise durch den Übergang von der „geklauten (Kolonialismus) zur gekauften (u. a. CO2-Bepreisung) Natur“. Statt der erforderlichen Wandlungen immer wieder Scheinlösungen, eingebettet in alte und neue Imaginationen und Suggestionen. Doch sind die vorherrschenden staatlichen Reaktionsmuster zunehmend auch durch „autoritären Liberalismus“ gekennzeichnet.

Und auch in der Gesellschaft selbst sieht er die regressiven Bewegungen als dominant an: so in Gestalt des Festhaltens an alten Gewissheiten, als Wunsch nach Wiederkehr der guten alten Normalität mit ihrem Wohlstandsmodell durch Wachstum, als Forderung nach „Schutz der Grenzen“ vor Einwanderung von „Fremden“. Für ihn ist das Ausdruck einer „Mentalen Infrastruktur als einer auf Expansion gepolten Alltagskultur“.

Reformerische Bewegungen und Bestrebungen seien am ehesten noch im Umgang mit der Klimakrise feststellbar, so durch energiepolitische Reformen im Sinne einer „ökologischen Marktwirtschaft“. Die Versöhnung von Ökonomie und Ökologie hält er hingegen für illusorisch. Adaption an den Klimawandel statt gesamtgesellschaftliche Transformation gegen den Klimawandel komme eben bei großen Teilen der Gesellschaft eher noch an. Doch eine grüne Wachstumsagenda werde nicht reichen.

Transformative Bewegungen zur Bearbeitung der Krisen und der neuen Herausforderungen seien vorhanden (ökologische und soziale Bewegungen), vorerst aber noch minoritär. Das brauche aber, falls sich die gesellschaftlichen Konflikte weiter zuspitzen, nicht unbedingt so zu bleiben.

Insgesamt ein nachdenkliches, wohl aber zutreffendes Bild des Umgangs der Gesellschaft als widerspruchsvolles Gebilde mit der multiplen Krise und den neuen Herausforderungen. Eine gesellschaftliche Mehrheit für gesellschaftlichen Wandel ist gegenwärtig nicht vorhanden.

Drittens – Was aber tritt an die Stelle der alten Normalität, wenn diese nicht mehr trägt und nicht mehr zu ertragen ist?

Eine „postnormale Zeit“ ist für Lessenich noch nicht wirklich in Sicht und für ein Leben nach der Normalität gibt es auch keine gesellschaftliche Übereinkunft. Mehr noch: Die gegenwärtig herrschenden politischen, regressiven Dispositionen und Positionen werden zumindest auch die nähere Zukunft bestimmen.

Also alles ohne Hoffnung? Das nun auch wieder nicht. Wer aber große gesellschaftliche Entwürfe und Alternativen erwartet, wird von Lessenichs Buch vielleicht enttäuscht sein. Es gelte erst einmal die „Irrationalität des Ganzen zu erkennen“ und die Macht der Illusionen, dass man mit den alten Rezepten weiterkomme, zu brechen. Der Schlüssel zur Realisierung der Möglichkeiten eines anderen Entwicklungsmodus liege in der Anerkennung des Eigenanteils des gesellschaftlichen Handelns an der Konstitution und Reproduktion der Strukturen, die deshalb auch nur durch unser Handeln „abgestreift“ werden können. „Was ansteht“ – so Lessenichs Schlussfolgerung daraus – „ist eine veritable Transformation des gesellschaftlich Imaginären“, das heißt vor allem eine Befreiung von den Zwängen, die uns noch als Freiheit erscheinen.

Hier nun ist die Tradition der Frankfurter Schule nicht zu übersehen, eben zuerst einmal der Gesellschaft und den Individuen einen Spiegel der Selbstverkennung vorzuhalten.

Aber Lessenich geht es letztlich doch ums gesellschaftliche Ganze. „Die Zukunft wird wirklich anders sein – oder aber sie wird nicht sein.“ In diesem Sinne plädiert er für die Überwindung der permanenten Steigerungslogik des „Weiter, Schneller, Höher“ (Naomi Klein, Hartmut Rosa) und für eine andere Form der Vergesellschaftung. Das heißt für das Potenzial einer anderen Ökonomie, die nicht den Märkten alle Entwicklung überlässt, sondern diese zum Gegenstand demokratischer Entscheidungen macht; für das Potenzial einer anderen Politik, die sich der Organisation gesellschaftlicher Mitsprache verschreibt; für das Potenzial einer anderen Solidarität, einer sozialen und globalen.

Das Wie dieser Transformation ist hier jedoch nicht sein Anliegen. Vielleicht gibt das neue Forschungsprogramm des IfS, das zurzeit erarbeitet wird und im September dieses Jahres auf einer internationalen Konferenz vorgestellt und diskutiert werden soll, hierzu mehr Auskunft. Aber Lessenichs Plädoyer für eine erneuerte und erweiterte Soziologie, die sich praxistauglich stärker der kritischen Öffentlichkeit und einer neuen Aufklärung verschreibt und nach alternativen Formen gesellschaftlicher Entwicklung sucht, ist eindeutig.

Die gegenwärtige, noch am Anfang sich befindende Debatte um eine aktuelle Zeit- und Gesellschaftsdiagnose kommt an Lessenichs Arbeiten nicht vorbei.

 

Stephan Lessenich: Nicht mehr normal. Gesellschaft am Rande des Nervenzusammenbruchs, ‎Hanser Verlag, Berlin 2022, 160 Seiten, 23,00 Euro (gebunden), 16,99 Euro (Kindle).