26. Jahrgang | Nummer 8 | 10. April

Prinzenrolle vorwärts?

von Doris Hauschke

Veröffentlicht wurde es sofort weltweit, das lange vorab beworbene und wegen zu erwartender Enthüllungen aus der königlichen Familie Großbritanniens von manch einem Leser dringend gewünschte Buch von Prinz Harry, der einstigen Nummer drei in der Thronfolge. Die Penguin Random House Verlagsgruppe brachte „Spare“ am 10. Januar 2023 gleichzeitig in 16 verschiedenen Sprachen heraus. Auf deutsch unter dem Titel „Reserve“. Und es wurde sofort ein gewaltiger Verkaufserfolg. In zahlreichen Ländern landete es unmittelbar auf dem ersten Platz der nationalen Bestsellerlisten, auf dem es sich wochenlang hielt. Laut „Guinness World Records“ ist es das am schnellsten verkaufte Sachbuch aller Zeiten. Allein am ersten Tag gingen mehr als 1,4 Millionen Exemplare über die Ladentische. Dass dieser überaus große kommerzielle Erfolg wenig über die Qualität der „Autobiographie“ aussagt, ist eine Binsenweisheit.

 Kann ein in seiner schulischen Ausbildung wenig brillierender Prinz Henry Charles Albert David of Wales auf Anhieb einen Welt-Bestseller schreiben? Eher nicht. Aber er hat eine tragische, aufsehenerregende, glamouröse, eindrucksvolle und vor allem eine royale Geschichte zu erzählen. Geschrieben hat es vermutlich hauptsächlich Harrys Ghostwriter John Joseph Moehringer, der Erfolgsjournalist und Pulitzerpreisträger aus den USA. Denn das Schreiben einer Biographie lernt man nicht auf Cocktailpartys oder bei der Ausbildung zum Kampfhubschrauberpiloten. Harry erwähnt dann auch in seiner zweieinhalbseitigen Danksagung am Ende des Buches: „Danke an meinen Mitarbeiter und Freund, Beichtvater und zuweilen Sparringpartner J.R. Moehringer […].“ Vor allem bedankt er sich jedoch bei seiner Ehefrau Meghan, bei seiner Schwiegermutter Doria Ragland und bei seiner Mutter Diana. Nicht jedoch – und das fällt auf – bei seinem Vater, dem damaligen unmittelbaren Thronfolger und heutigen König Charles III. Auch nicht bei seiner Familie väterlicherseits. Seiner Frau Meg, den beiden Kindern Archie und Lili und natürlich seiner Mutter widmet er das Buch, dem als Motto ein bekanntes, durchaus treffendes Zitat von William Faulkner vorangestellt ist: „The past is never dead. It’s not even past.“ – „Das Vergangene ist niemals tot. Es ist nicht einmal vergangen.“

 Die Prinzen-Biographie ist überaus detailreich und gut lesbar geschrieben. In der Einleitung, die mit „Reserve“ wie das gesamte Buch betitelt wurde, begründet der 38-jährige Harry, warum er nun sein Leben erzählt. Er beschreibt eindrucksvoll die Angst, die er und seine Frau um ihre körperliche und geistige Unversehrtheit in England gehabt hatten. Ebenso begründet er die Eloge auf seine Mutter, die Frieden in der Familie Windsor wollte, wo jetzt Krieg herrsche. Der „geliebte“ Bruder Willy wird als „Erzfeind“ William betitelt. Seinem Vater, dem Bruder und ausdrücklich der „Welt“ will er mit dem Buch begründen, warum er mit seiner Familie erst nach Kanada und schließlich in die USA geflohen sei. Jetzt ist sein Lebensmittelpunkt bei Santa Barbara in Kalifornien.

Schaut man auf die genannten Verkaufszahlen des Buches, will die „Welt“ wohl genau das über Prinz Harry und seine Frau Meghan, Herzogin von Sussex, lesen. Denn Klatsch, zumal aus Königshäusern, ist immer gefragt.

 Das Buch ist in drei Teile gegliedert: Kindheit, Armee, Meghan. Ein zentraler Satz über Harrys Rolle in der königlichen Rangfolge ist: „Der Heir und der Spare (der Erbe und die Reserve, D.H.) – es lag keine Wertung darin, aber auch nichts Missverständliches. Ich war der Schattenmann, die Stütze, der Plan B. Ich wurde geboren für den Fall, dass Willy etwas zustieß. Wurde hierher beordert, um ihm Ablenkung und Zerstreuung zu verschaffen und, wenn nötig, ein Ersatzteil. […] All das wurde mir schon zu Beginn meines Lebensweges glasklar zu verstehen gegeben und auch später regelmäßig aufgefrischt.“ Tatsächlich?

 Der größte, dem Leser zu Herzen gehende Schmerz seines Lebens ist der Unfalltod seiner Mutter. Der zwölfjährige Junge und auch der junge Mann, der er später ist, wollen nicht glauben, dass die geliebte Mutter wirklich tot ist. Er gibt den Paparazzi die Schuld, dass die Mutter bei dem Autounfall ums Leben gekommen ist. Jahrelang kann er ihren Tod nicht verarbeiten. Es ist ein sehr trauriger Abschnitt im Leben des jungen und einsamen Prinzen. Die daraus erwachsene Verzweiflung spiegelt sich in seiner Schulzeit in Eton wider. Harry ist „der Böse“, der „Gras“ raucht, der übermäßig Alkohol trinkt, der schon in Jugendjahren immer wieder Gegenstand der rücksichtslosen Boulevardpresse wird. Die von ihm empfundene familiäre Distanz und Kälte ist immer spürbar. Er berichtet über posttraumatische Belastungsstörungen, Depressionen und Therapien. Selbst intime Details wie „das erste Mal“ auf einer Wiese hinter einem Pub, Details seiner militärischen Einsätze im Irak oder in Afghanistan, einschließlich des Tötens der Gegner, wiederkehrende Probleme mit Freundinnen wegen der allgegenwärtigen Paparazzi kann der Leser genau nachfühlen. Natürlich auch, wie er Meghan Markle, die Liebe seines Lebens, kennenlernte bis hin zu deren Aufnahme in die königliche Familie und zu den Gründen des Verlassens der Royals.

 Manche Details mögen neu sein, andere wurden durch die Boulevardpresse schon hinlänglich vermarktet. Vor allem rechnet er immer wieder mit Paparazzi, seinem Bruder und seinem Vater ab. Auch über Camilla Parker Bowles, die nach dem Tod der Mutter offen an der Seite seines Vaters lebt, findet sich kaum ein positives Wort. Im Gegenteil, er beschuldigt sie, Urheberin vieler sogenannter „Leaks“ über seine Person zu sein, die an die Paparazzi gelangt waren. Sie sei „gefährlich“, doch das Königshaus hülle sich dazu in Schweigen, ist Harrys Erkenntnis. Über seine „Granny“, die Großmutter und Queen Elisabeth II., äußert Harry kein böses Wort. Doch deren bekannte Regel „Never complain, never explain“, „Beschwere dich nie, erkläre dich nie“, kann Harry nicht umsetzen. Er sucht Offenheit und Schutz vor den Lügen der Boulevardpresse, die er im Königshaus aber nicht findet. Als Harry mit seiner Familie die Royals verlässt, hat das ernste Konsequenzen. Ihm wird der royale Geldhahn zugedreht. Er muss nunmehr auf Titel wie Königliche Hoheit verzichten und seinen Lebensunterhalt selbst verdienen. Wer erwartet, dass Harry sich über die Querelen seiner Familie hinaus umfassend zu den innenpolitischen Problemen Großbritanniens äußert, der wird enttäuscht sein. Diese sind nicht seine Themen.

 Dieses Buch soll Harry nach vorsichtigen Schätzungen zwischen 30 und 40 Millionen Dollar eingebracht haben, andere geben bis zu 150 Millionen an. Einen Bruchteil davon hat er, wie der Verlag auf dem Haupttitelblatt verzeichnet, an Wohltätigkeitsorganisationen gespendet. Nachdem der Prinz eine neue Rolle im Leben gesucht und hoffentlich gefunden hat, bleibt die Frage: Wie geht es weiter? Wird auch Meghan ihre Memoiren schreiben? Man darf gespannt sein.

 

Prinz Harry: Reserve, Übersetzung aus dem Englischen von Stephan Kleiner u.a., Penguin Verlag, München 2023, 512 Seiten, 26,00 Euro.

 

Doris Hauschke, Diplom-Dokumentarin, lebt in Berlin.