Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 14. April 2008, Heft 8

Was wir von der »Gustloff« lernen?

von Ove Lieh

Natürlich gibt es auf diese Frage hier keine Antwort, denn da ich nicht weiß, wer »wir« sind, weiß ich auch nicht, ob »wir« überhaupt lernen können, und schon gar nicht, woraus oder von wem. Aber, man soll ja das Unmögliche versuchen! Lernen wir also:

1. Schiffe, die in der Realität untergegangen sind, gehen auch im Film unter.. Das ist keine Selbstverständlichkeit, denn andere reale Vorgänge finden im Film nicht statt.

2. Wenn ein Krieg erst einmal richtig in Gang gekommen ist, kann man sich nur noch schwer heraushalten. Deshalb ist es für alle, die nicht durch einen Krieg zu Schaden kommen wollen, besser, wenn sie ihn verhindern helfen. Die Risiken dabei sind zumindest vorläufig noch geringer als die im Kriege.

3. Die eigentlichen Ursachen für Tragödien liegen oft zeitlich und sogar räumlich weit weg von ihnen. Ihre Erkenntnis wird noch dadurch erschwert, daß man sich darüber streiten muß, worin die Tragödie eigentlich oder die eigentliche Tragödie (?) besteht. Wann im 20. Jahrhundert gab es die deutsche Katastrophe? Was war der Zusammenbruch? Welches war die Niederlage? Worin bestand die Ursache des Flüchtlingselends? Zunächst natürlich in der Tatsache, daß es zur massenhaften Existenz von Flüchtlingen kam.

Ab wann kam es eigentlich zu einer nennenswerten Erhöhung der Zahl von Deutschen, die nicht an ihrem angestammten Ort bleiben durften oder konnten und deren »Abreise« sich auf eine Art und Weise vollzog, die man als Flucht bezeichnen kann? Konnten die gegen Kriegsende »plötzlich« oder gar »überraschend« zu Flüchtlingen gewordenen Menschen ahnen, daß diese früheren Fluchten auch sie etwas angehen könnten, vielleicht sogar ein Menetekel darstellten? Ab wann und wodurch hatten sie sich der Möglichkeit begeben, ihre Flucht zu verhindern?

Haben Sie jetzt auch das Gefühl, diese ganze Fragerei könnte darauf hinauslaufen, den Leuten zu unterstellen, sie seien an ihrem Unglück selbst schuld? Wie fühlen Sie sich dabei? Nicht gut? Ich auch nicht! Aber gibt es heute Anzeichen dafür, daß uns irgendein Unglück treffen könnte, wenn wir heutige Entwicklungen dulden? Werden wir eines Tages flüchten müssen? Wenn uns dieser Gedanke absurd erscheint, fragt sich, ob es den Flüchtlingen aus und nach Nazideutschland irgendwann auch einmal so ging? Und ab wann nicht mehr? Was hat der Film zur Aufklärung dieser Hintergründe beigetragen?

4. Letzte Frage: Angesichts des Todes von Erwin Geschonneck fragt man sich, wann die Versenkung der Kap Arkona filmisch umgesetzt wird und unter welchem Markenzeichen, da der Titel »größte Schiffskatastrophe aller Zeiten« schon vergeben ist. Es war allerdings ganz anderes »Personal« an Bord. Keine »unschuldigen deutschen Flüchtlinge«, sondern (»selbstverschuldete«?) Häftlinge, und diese wurden nicht von den Russen versenkt, sondern von den Briten. War der »Untergang« der Gustloff vielleicht nach der Zahl der Opfer die größte Schiffskatastrophe aller Zeiten, so war zumindest aus meiner Sicht der »Untergang« der Arkona die größere Tragödie.

Wir lernen: Schiffe gehen nicht grundlos unter. Nach diesen Gründen ganz genau und gründlich zu fragen, den Dingen also auf den Grund zu gehen, bevor Schiffe es tun, könnte uns die Gustloff lehren.