von Joachim Großkreutz
Neulich war ich mal wieder in der Komischen Oper, es wurden die sorgfältig restaurierten filmischen Hinterlassenschaften ihres Gründers und langjährigen Leiters Walter Felsenstein gezeigt. Ich kenne das Haus gut, ich habe dreißig Jahre da gearbeitet, allerdings leider – oder, wie ich inzwischen belehrt bin, Gott sei Dank – erst nach dem Ableben des Meisters. Ich kenne auch die Filme, die dort in Ausschnitten gezeigt wurden, selbst wenn es Jahre her ist, daß ich sie zum letzten Mal gesehen habe. Deshalb ging ich auch mit leicht gemischten Gefühlen in die Veranstaltung, wie immer, wenn es um diese Filme geht: Würden sie imstande sein, einen Eindruck von den zumeist grandiosen Inszenierungen zu vermitteln, die ihnen zugrunde lagen? Wie würden die Zuschauer auf den Zwiespalt reagieren, den ich immer empfinde, wenn ich Felsensteins auf die Bühnenwirkung berechnete expressive Theatermittel mit der Nahaufnahme einer Kamera dokumentiert sehe? Und so weiter …
Ich fand meine Sorgen unbegründet und erlebte zu meiner Überraschung, daß viele der gezeigten Szenenausschnitte mich und die um mich herum Sitzenden noch immer ganz unmittelbar berührten.
Inzwischen weiß ich, daß wir alle einer üblen Täuschung aufgesessen sind: Die ausgebufften Veranstalter dieser Show haben uns offenbar nur die Highlights gezeigt und jede Menge wertlosen Schrutz einfach weggelassen. Darüber bin ich durch zwei Kritiker belehrt, durch Frau Dr. Eleonore Büning und Herrn Professor Dr. Michael Stegemann, die sich am 26. Januar in der FAZ beziehungsweise am Abend des 1. Februar auf rbb kultur zur Felsenstein-Edition äußerten. Eleonore Büning erwies ihre hohe fachliche Kompetenz durch die überraschende These, im ersten Duett von Mozarts fröhlicher Susanna (sic!) mit dem Liebsten Figaro gehe es »um die Frage, wo denn jetzt das Ehebett aufgestellt werden soll«. Zuvor referierte sie wohlwollend Felsensteins Theatertheorie, sah aber bei deren Verwirklichung nur Ekstase, Übertreibung, Pose, Unnatur und befand, daß das Ganze ins Theatermuseum gehöre – was nebenbei gesagt nicht der schlechteste Vorschlag ist. Herr Stegemann hingegen war dermaßen vom Ekel gepackt, daß er nur noch abgerissene Ausrufe des Abscheus von sich geben vermochte (… plumper Plüsch … was für eine einfältige Regie … biederes Handwerk … Fünfziger-Jahre-Mief …) und schließlich verlautbarte, da habe er ja im Stadttheater Münster bessere Inszenierungen gesehen.
Daraufhin bin ich doch sehr in mich gegangen. Natürlich fiel mir gleich ein, daß ich spätestens seit dem 13. August 1961 nicht mehr die geringste Chance hatte, das Stadttheater Münster zu besuchen, nach diesem Datum aber auch meine Pilgergänge in die Komische Oper begannen; vorher war das schlecht möglich, da die Vorstellungen dank der »offenen Grenze zu Westberlin« fast immer restlos ausverkauft waren. Statt mich auf den Hosenboden zu setzen und meine Lehrbücher aufzuschlagen, trabte ich, so oft es nur ging, an die Kasse der KO und ließ mich, falls es noch Restkarten gab, nach Vorzeigen meines einschlägigen Studentenausweises und Ablieferung 1 (einer!) luschigen DDR-Mark auf einem der besten Plätze nieder, um mir zum vierten, fünften oder sechsten Mal Das schlaue Füchslein, La Traviata, den Sommernachtstraum, Othello oder anderes Augenroll-Theater reinzuziehen. Goldene Jugendjahre, kostbare Studienzeit – sinnlos vertan!
Nun wissen wir seit einigen Jahren aus berufenem Mund, daß der DDR-Mensch »verproletarisierte«, ganz zu schweigen von den nachwachsenden Generationen, die in den überreichlich vorhandenen Kindereinrichtungen psychisch zusätzlich geschädigt wurden, weil man sie alle zur gleichen Zeit auf den Topf setzte! Da konnten negative Auswirkungen auf den Kunstgeschmack gar nicht ausbleiben.
Aber warum strömten auch Scharen Westberliner und altbundesrepublikanischer, nachweislich nicht verproletarisierter Menschen in die Behrenstraße, um den Sirenengesängen des österreichischen Rattenfängers zu lauschen? »Im Publikum – es war von Ost und West ›alles‹ da! – herrschte Hochstimmung« schrieb ein Hamburger Kritiker 1955 nach der Premiere der Schweigsamen Frau.
Zwar haben Musikwissenschaftler aus West und Ost inzwischen herausgefunden, daß Felsensteins angeblich »realistisches Musiktheater« einerseits nur eine gut getarnte Variante des berüchtigten sozialistischen Realismus, andererseits für den täglichen Aufbau dieses Sozialismus gar nicht recht praktikabel, sondern eher so eine Art »Feiertags«- oder »Sonntagnachmittagsausgeh«-Kunst war. Trotzdem, die Leute aus West und Ost liefen da hin, ich immer mit!
Wenn ich nur grob überschlage, an wievielen arglosen Angehörigen der deutschen Nation sich der abgefeimte Österreicher in 28 Jahren mit etwa ebenso vielen Inszenierungen geschmacksverbildend versündigt hat, packt mich das kalte Grausen! Auch das Ausland hat er nicht verschont, wie allein schon sein Gastspiel beim Pariser Theaterfestival Theater der Nationen 1959 mit Hoffmanns Erzählungen beweist. Auch da waren es bezeichnenderweise nicht die alten Knacker, die dem verplüschten Naturalisten einen Preis verliehen, sondern ein »cercle de la jeune critique«!
Ob Frau Büning das meint, wenn sie trotz ihrer Mäkligkeit darüber sinniert, ob denn in einer fernen Zukunft die Inszenierungen der jetzigen Regiehäuptlinge auch noch so berühren können und was davon weiterwirkt, wie es Felsensteins Kunst tat?
Wie auch immer, sie und Herr Stegemann teilen durchaus nicht Bertolt Brechts Meinung, Felsensteins »Beitrag zu einem deutschen Nationaltheater« sei »bedeutend«. Das ist ihr gutes Recht, und gerade dem Brecht muß man wirklich nicht alles nachplappern, sooft wie der sich geirrt hat! Er soll ja sogar mal auf die Frage, woran er gerade arbeite, geantwortet haben, er »bereite seinen nächsten Irrtum vor«! Außerdem weiß man gar nicht, was für einen linken Scheiß der womöglich unter »deutschem Nationaltheater« verstand.
Wie oft sich Felsenstein geirrt hat, wird jetzt gerade erforscht.
Seinerzeit erzählten mir Kollegen, Felsenstein habe, wenn ihn jemand darauf hinwies, daß er sich mit einem Detail vertan hatte, die Sache spätestens auf der nächsten Probe korrigiert, unter Hinweis auf den klugen Mitdenker und starker Selbstkritik (»Ich verkalke, nicht?!«). Überhaupt gibt es viele schöne Bonmots und Sarkasmen aus seinem Mund, mein Favorit war immer: »Auch die SED wird den Siegeszug des Sozialismus nicht aufhalten können!« Da hat er sich aber wirklich geirrt, und wie!
Ja, es tut mir inzwischen um vieles leid, nicht zuletzt um die viele Arbeit, die sich Christoph Felsenstein mit der Restaurierung der Filme gemacht hat, und um das viele schöne Geld, mit dem die Zürcher Niederlassung von Mercedes-Benz diesen Flop sponserte. Außerdem fühle ich mich ästhetisch und psychisch ganz allgemein stark verunsichert.
Aber damit muß man allein klarkommen, wenn man sich jahrzehntelang den Röhrenden Hirsch im Abendrot übers Bett hängt und ihn auch noch für große Kunst hält!
P. S. Eben erfahre ich aus dem Tagesspiegel vom 2. März, daß nun auch Felsensteins geistige Zurückgebliebenheit gegenüber den Alt-68ern eindeutig nachgewiesen sei. Vielleicht bekommt er wenigstens mildernde Umstände, denn die von Hans Neuenfels herausgefundene Tatsache, daß Prinz Tamino Bettnässer sei und Papageno fünf Mal täglich onaniere, dürfte selbst den geistig so wendigen Mozart überraschen.
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