von Heerke Hummel
Die Russen haben einen neuen Präsidenten mit großer Mehrheit gewählt. Das war vorher absehbar. Und prompt tönt es aus den Medien: Die Wahlen waren unfair, nicht demokratisch! Das mag so sein, jedenfalls nach hiesigen Maßstäben.. Aber müssen unsere Maßstäbe für alle und überall maßgebend sein?
Zu fragen und vor allem zu beantworten wäre doch wenigstens, wenn man sich schon für den Nabel der Welt und den Hort der Demokratie hält: Was ist demokratisch, und was versteht man unter Demokratie? Für das Zentrum des Weltgeschehens hielten sich übrigens schon die alten Athener. Die waren im eigenen ökonomischen Interesse darauf aus, ihr politisches System den Nachbarstaaten aufzuzwingen. Wer sich nicht einordnete, wurde von der athenischen Flotte heimgesucht.
Weiter wäre zu fragen: War es etwa demokratisch, daß sich die SPD bei den vorigen Bundestagswahlen von Millionen Einkommensschwachen mit dem Wahlversprechen wählen ließ, die Mehrwertsteuer nicht zu erhöhen, um danach das genaue Gegenteil zu tun – null plus zwei gleich drei –, ohne auch die Einkünfte dieser Klientel aufzubessern?
Auch was gerade in den Vereinigten Staaten mit viel Rummel und Getöse und noch mehr Geld über Wochen zur Präsidentenkür veranstaltet wird – von der seinerzeit sehr umstrittenen Wahl des jetzt noch amtierenden G. W. Bush ganz zu schweigen –, ist doch wohl nicht frei von Wählerbeeinflussung. Ist Wählerbetrug kein Wahlbetrug?
Natürlich werden trotz der Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Wahlergebnisses unsere Regierenden ihre Abneigung überwinden und mit den neuen Herren im Kreml reden und verhandeln. Sie benötigen den russischen Markt sowie russisches Gas und Erdöl.
Ich gebe zu, daß auch ich nicht unter den russischen Verhältnissen leben möchte. Aber ist das ein Grund, sich so aufzublasen, zu überheben? Die Art und Weise unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens entspricht unseren ererbten Existenzbedingungen. In vielen Gegenden der Welt funktioniert das Zusammenleben der Menschen – und auch das Regieren – anders als bei uns. Das Hineinregieren des Kremls in die Wirtschaft stört zwar die hiesigen Bosse, den Kassierer im ALDI-Markt aber wohl kaum. Warum? Weil die Bosse sich ebensowenig wie Schulze oder Lehmann um das Schicksal der Leute auf den Bohrtürmen im sibirischen Eis scheren, aber sehr stark um das geförderte Öl, das dem Schulze und dem Lehmann dagegen ziemlich schnurz ist, weil sie daran nichts verdienen.
Die Russen aber, jene auf den Bohrtürmen wie jene im Kreml, sehen das alles etwas anders. Sie sind seit der Eroberung durch die Mongolen nie ernsthaft aus dem Ausnahmezustand herausgekommen. Die Revolutionen 1905 sowie im Februar und Oktober 1917, die Konterrevolution mit Bürgerkrieg, ausländischen Invasoren und schließlich Hungersnöten waren sein Resultat.
Lenins nüchterne Analyse dann Anfang 1921: Nicht die Bolschewiki hätten gesiegt, denn ihre militärischen Kräfte waren nicht der Rede wert. Der Sieg sei dem Umstand zu verdanken, »daß die Mächte nicht ihre ganze militärische Kraft gegen uns einsetzen konnten«. Nach dem heißen folgte schon damals ein »kalter«, ein Wirtschaftskrieg, um Sowjetrußland zu isolieren, vom Welthandel abzuschneiden und seine ökonomische Entwicklung zu bremsen. Gewitterwolken zogen auf.
Auf der Konferenz von Genua sollte 1922 ein westeuropäisches Konsortium zur Regulierung der Wirtschafts- und Finanzbeziehungen zwischen den Staaten gebildet werden. Ein solches Organ hätte, nachdem militärisch nichts erreicht worden war, die Sowjetmacht ökonomisch erdrücken können. Lenins Strategie hingegen sah vor, die Interessengegensätze zwischen den anderen Mächten in zweiseitigen Verhandlungen und mit Abkommen über den Tausch von Rohstoffen gegen Maschinen auszuspielen. Das gelang auch – am Rande der Konferenz von Genua mit dem Vertrag von Rapallo zwischen Sowjetrußland und Deutschland. Er war ein Meisterstück der Diplomatie. Denn er öffnete die Umklammerung Rußlands und erlaubte Deutschland, die Isolierung und ökonomische Vergewaltigung durch den Diktatfrieden von Versailles zu mildern. Am 16. April 1922 unterzeichnete der deutsche Außenminister Walther Rathenau den Vertrag. Zwei Monate später, am 24. Juni, wurde er – unter anderem auch deswegen, von Mitgliedern der rechtsradikalen Organisation Consul erschossen. Die Rede, die im Reichstag am Tag darauf Kanzler Wirth hielt, könnte in weiten Teilen an eine heutige Hörerschaft gerichtet gewesen sein. Sie endete mit den Worten: »Der Feind steht rechts!«
Daß Wirths »auf eine vernünftige Lösung des ganzen Reparationsproblems auf wirtschaftlicher Basis« zielende Politik erfolglos blieb, ging weitgehend auf das Konto der französischen und der englischen Bourgeoisie, die so den Nährboden für den Nationalsozialismus in Deutschland wesentlich bereiteten.
Auch in Rußland beziehungsweise in der Sowjetunion standen die inneren Verhältnisse stets in Wechselwirkung mit den äußeren Beziehungen. Da diese seit der Oktoberrevolution nie »normal«, sondern immer durch eine existentielle Bedrohung gekennzeichnet waren – US-Präsident Ronald Reagan sprach noch 1981 offen davon, die Sowjetunion totrüsten zu wollen –, ist es entweder verlogen oder dumm, von der Nach-Jelzin-Kreml-Garde im deutschen Sinne »normale Methoden« der Herrschaft zu erwarten. Immerhin hatte der Alkoholiker mit dem Rat seiner »Freunde« aus dem Westen, Kanzler Kohl rechnete auch sich dazu, die ohnehin marode Sowjetwirtschaft an den Rand des Zusammenbruchs gebracht.
Das Vertrauen der Russen in den Westen ist heute so groß, daß Wladimir Putin auf seiner letzten Pressekonferenz als russischer Präsident von der Befürchtung sprach, Rußland könnte (neo)kolonialisiert werden. Dabei handelte es sich weder um eine verbale Entgleisung noch um eine abwegige Äußerung. Die Gefahren lauern überall, nicht zuletzt von seiten solcher internationalen Organisationen wie Weltbank, Internationaler Währungsfonds und Welthandelsorganisation. Die USA mit ihren Verbündeten, auch den deutschen, demonstrieren gerade, wozu sie bereit sind, wenn es um Energieressourcen geht und »normale« Wege nicht zum Ziel führen. Die russischen Vorräte gehören zu den bedeutendsten der Welt. Wen wundert’s da, daß die russische Führungselite den Druck des Westens nutzt, um ihre innere Macht auszubauen?
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