25. Jahrgang | Nummer 16 | 1. August 2022

Jenseits von Eden

von Klaus Freyer

Ein unsichtbarer Priester segnet die Hochzeit der gekrönten Maria Magdalena mit dem fast nackten Jesus. Isis, die ägyptische Göttin mit den Kuhhörnern, zieht einen weiblichen Horus auf. Eva wird von einem Dämon besprungen…Wer im Panorama Museum auf dem Weg zum Monumentalgemälde Werner Tübkes in der derzeitigen Sonderausstellung anlässlich des 80. Geburtstages des Malers und Plastikers Hans-Peter Müller Station macht, findet sich unversehens auf einer Zeitreise durch eine seltsame mythische Welt wieder.

Per se rätselhaft und reich an Metaphern ziehen die fast 100 Bilder in altmeisterlicher Manier den Betrachter in ihren Bann. Dabei mag es ihm wie dem Maler in seinem künstlerischen Schaffensprozess selbst gehen: Er findet keine beschauliche Ruhe. Die Odyssee seines Geistes lässt ihn wie den Rezipienten rastlos umherwandern im magischen – vielleicht auch manchmal tragischen – Dreieck von Realität, Mythos und Geschichte. Wenn schon keine Irrfahrten zu Circe und Kalypso, dann doch den Cartesischen Zweifel ständig dabei im Huckepack, sozusagen als Reisegepäck seiner Gedanken. Denn Müller ist Skeptiker. Darauf baut auch seine Sucht nach Geschichte und Geschichten, die er als seinen künstlerischen Antrieb versteht. Und die der Betrachter der Bilder von Hans-Peter Müller kraft seines eigenen Verstandes und mit zunehmender Erkenntnisfreude als Anstrengung der eigenen Interpretation auf sich nimmt.

Bereits am Treppenaufgang zur Ausstellung gehen Adam und Eva mit einem Drachenkind an der Leine in die Morgendämmerung. Lilith, nach einer altjüdischen Sage die Vorgängerin Evas, gibt Adam die Frucht der Erkenntnis, während Eva ihn in den Hintern kneift. Ging es also lustig zu im Paradies?

Die Retrospektive von Hans-Peter Müller, in Leipzig 1942 geboren, daselbst unter anderem Geschichte auf Lehramt studiert und kurz vor dem Abschluss zur legendären Hochschule für Grafik und Buchkunst gewechselt, nach dem Diplom Meisterschüler bei Bernhard Heisig, hält überraschende Bildfindungen parat.

Bekanntes und Unbekanntes ergeben eine verstörende und zugleich faszinierende Symbiose, die die Neugier auch des zufälligen Besuchers weckt. Laut einer rabbinischen Auslegung des Alten Testaments bedeckten die Söhne Noahs nicht einfach die Nacktheit ihres trunkenen Vaters, sondern vergriffen sich an ihm. Keine leichte Kost, zumal gleichzeitig Salome ihren Tanz tanzt und drei Tempelhuren dabei sind, einen menschlichen Schädel zu verspeisen. Leistet sich Müller hier einen Tabubruch? Oder spiegeln sich in altjüdischen oder gar urchristlichen Überlieferungen tatsächlich prähistorische Schatten? Müller erklärt sich nicht, nimmt sich aber die künstlerische Freiheit, um hinter den tradierten Überlieferungen andere historische Wahrheiten zu vermuten.

Er gräbt scheinbar Vergessenes oder gar bewusst Verlore­nes aus, mischt Details und Zeiten neu und kommt zu anderen Geschichten aus Geschichte, Religion und Mythos, die bis in die Gegenwart reichen. So transformiert er die alttestamentarische Erzählung um Lot und seine Töchter auf die anglo-amerikanische Bombardierung Dresdens im Zweiten Weltkrieg. Existenzielle Gefährdungen der Menschheit hören eben nicht mit Sodom und Gomorra auf.

Geht es Hans-Peter Müller also nicht nur um die historische oder mythische Vergangenheit? Was passiert, wenn wir unsere Perspektive auf den kulturhistorischen Hintergrund der überlieferten Mythen und Legenden richten? Spiegeln sie dann authentischer den Lebenslauf der Gattung Mensch bis ins Heute? Im Panorama Museum bietet sich noch bis Mitte Oktober die Gelegenheit, es selbst herauszufinden. Nur sollte man dabei nicht den Ausstellungstitel vergessen: Jenseits von Eden. Vielleicht hat es das Paradies nie gegeben. Und was man niemals hatte, konnte auch nicht verloren gehen. Ist das die Quintessenz, die uns Hans-Peter Müller mit seinem anderen Blick auf unsere mythische Vergangenheit erlaubt?

Jenseits von Eden: Hans-Peter Müller zum 80. Geburtstag. Bis 16.10.2022 im Panorama-Museum 06567 Bad Frankenhausen, Am Schlachtberg 9.

Dr. Klaus Freyer, Philosophiehistoriker, war als Hochschullehrer und in der Unternehmenskommunikation tätig. Sein Interesse gilt heute besonders der Kulturförderung und der bildenden Kunst. Er lebt in Gera.