von Hermann-Peter Eberlein
Vor hundert Jahren, am 12. Februar 1908, wurde Kurt Hiller – später einer der wichtigsten Mitarbeiter der Weltbühne – von der Heidelberger Universität zum Doktor der Rechte promoviert. Dieses Jubiläum hat die Kurt-Hiller-Gesellschaft zum Anlaß genommen, im dritten Band ihrer Schriften einen Schwerpunkt auf das juristische Wirken des Autors, Philosophen und Pazifisten zu legen.
Hillers Promotion als Externer – das ging damals noch – in Heidelberg war eine Verlegenheitslösung. Seine rechtsphilosophische Dissertation Das Recht über sich selbst hatte er eigentlich an seiner Heimatuniversität Berlin einreichen wollen. Doch für die Juristische Fakultät war die Arbeit zu philosophisch, für Hillers philosophischen Lehrer Georg Simmel zu juristisch. In Heidelberg fand Hiller schließlich im späteren Reichsjustizminister Gustav Radbruch einen Fürsprecher. So wurden einige Kapitel aus Hillers brisantem Buch unter dem Titel Die kriminalistische Bedeutung des Selbstmordes cum laude als Dissertation angenommen; das Rigorosum bestand der Promovend Ende November 1907 rite. Den Noten nach also war diese Promotion wahrlich keine Glanzleistung, dem Inhalt der Abhandlung nach aber ein Meilenstein auf dem Weg zu einem liberal ausjustierten Strafrecht.
Damit befaßt sich ausführlich Ruprecht Großmann im ersten Aufsatz des vorliegenden Bandes, in dem er Kurt Hiller als Vordenker und Vorkämpfer des Selbstbestimmungsrechts vorstellt. Der überempirische Wert par excellence des Rechts ist für Hiller die Freiheit. Damit hat Großmann den Dreh- und Angelpunkt für Hillers juristisches Denken benannt. Zur Freiheit treten Vernunft und Wille als weitere apriorisch bestehende Voraussetzungen einer normativen Rechtswissenschaft – eine Trias, die das gesamte Denken des Autors bestimmt.
Hillers optimistische Prognose freilich: »Wir stehen vor einer Epoche, die die Annäherung an das Ideal des Rechts … denkbar macht, nämlich vor einer Reform der deutschen Strafgesetzgebung« nach dem Maßstab individueller Selbstbestimmung, ist in Westdeutschland erst in den siebziger Jahren erfüllt worden; die Grundvoraussetzung hierfür hat erst das Grundgesetz mit seinem Artikel 2 geschaffen: »Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt …«
Unter dem Titel Ein Leben lang im Recht unternimmt Harald Lützenkirchen einen Streifzug durch Hillers juristische Publizistik und sein Wirken als Jurist, wobei dem lebenslangen Kampf des Autors um ein liberales Sexualstrafrecht und der Bemühung um eine philosophische Begründung von Rechtsnormen besonderes Gewicht zukommt. Der bewußt zweideutige Titel von Lützenkirchens Aufsatz nimmt den Vorwurf der Rechthaberei auf, den viele Hiller nicht ganz unberechtigt gemacht haben. Wobei Hiller eben meist tatsächlich im Recht war. So reklamiert er gegenüber Carlo Schmid, einem der Väter des Grundgesetzes und selbst ein sehr viel kulanteres und vornehmeres Naturell, im August 1948 die Urheberschaft für den für die neue Verfassung fundamentalen Satz, der Staat sei um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen – in der Tat hat Hiller dies so schon 1920 auf dem Braunschweiger Pazifistenkongreß gesagt.
Der Band eröffnet in seinen übrigen Beiträgen weite Perspektiven: André Gide und der jüngst verstorbene Hans Wollschläger treten in den Blick, die Nietzsche-Rezeption im literarischen Aktivismus und Hiller als Literaturkritiker. Ein besonderes Schmankerl ist Wolfgang Beutins Aufsatz über Karl Kraus’ Beitrag zur Sexualreformbewegung. Für den Fackel-Herausgeber wie den anderen paradigmatischen Autor der Wiener Moderne, Sigmund Freud, ist die christliche Nacht endlich und endgültig zu Ende, in der die Menschheit auf Zehen zu der Liebe schleichen mußte und sich dessen zu schämen hatte, was sie tat. Wie Hiller ist ihnen die moralische Bande ein Greuel, die die Menschheit strangulieren und in das monogame Gestüt zwängen möchte; denn: In der Liebe gibt es nichts Anstößiges. Das ist sogar gut biblisch, und so sollten es sich die Vertreter neokonservativer christlicher Moralvorstellungen nicht nur in den USA ins Stammbuch schreiben lassen.
Im Jahre 1938 hat die Heidelberger Universität Hiller den Doktorgrad wegen »Unwürdigkeit« aberkannt und erst nach dem Krieg wieder beigelegt. Das Goldene Doktordiplom, fünfzig Jahre nach der Promotion bei besonderen Leistungen des Jubilars in seiner Wissenschaft üblich, hat die Ruperto Carola Heidelbergensis Kurt Hiller verweigert.
Die Lektüre des vorliegenden Buches jedoch macht deutlich: Dieser Jurist ist – im Gegensatz zu den unzähligen Schandjuristen seiner Generation von Freisler bis Filbinger und trotz seines gelegentlich penetranten Stils – ein wahrer Doctor juris, ein Lehrer von Recht und Gerechtigkeit – gerade für Zeiten wie unsere, in der die individuelle Freiheit unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung vom Staat mehr und mehr zerschlagen wird.
Schriften der Kurt Hiller Gesellschaft Band 3, herausgegeben von Harald Lützenkirchen, Verlag Martin Klaußner Fürth 2007, 273 Seiten, 24 Euro
Schlagwörter: Hermann-Peter Eberlein, Kurt Hiller, Kurt-Hiller-Gesellschaft