25. Jahrgang | Nummer 11 | 23. Mai 2022

European Song Grotesque 2022

von Stefan Pfüller

Das im italienischen Turin aufgeführte Drama, das am zweiten Samstag im Mai wohl weltweit über die TV-Bildschirme flimmerte, nennt sich natürlich anders: European Song Contest (ESC), wiewohl es kein reiner und auch kein allumfassender europäischer Wettbewerb war. Einerseits durften bestimmte europäische Länder aus nachvollziehbaren Gründen nicht daran teilnehmen. Andererseits trat ein Vertreter eines Landes namens Australien auf, welches sich bekanntermaßen weit weg vom europäischen Kontinent befindet. Diese geopolitischen Abweichungen kann man aber akzeptieren, man ist ja weltoffen und aufgeklärt.

Als Gebürtiger jenes Landes, das gern als Land der Dichter und Denker bezeichnet wird, kann man auch akzeptieren, dass dem deutschen Beitrag, wie schon so oft, vor dem Wettbewerb große Chancen auf eine vordere Platzierung zugetraut wurden, dieser sich aber am Ende der Veranstaltung auch am Ende des Klassements wiederfand. Dies ist eine seit Jahren bekannte Tendenz und deshalb nicht überraschend. Überraschend dagegen ist der ebenfalls seit Jahren gepflegte Hang beim deutschen Vorausscheid, sich regelmäßig für eher chancenlose Beiträge zu entscheiden. Peter Urban, der langjährige ARD-Kommentator des ESC sagte dazu in einem Interview am Sonntag nach der Show in der Sendung „ZDF-Fernsehgarten“ richtigerweise, dass man auf der europäischen Bühne mit Durchschnittsware nicht bestehen kann. Das allerdings ist aber noch nicht Grund genug, von einem grotesken Wettbewerb zu sprechen.

Das Groteske liegt woanders.

Bekanntermaßen nannte sich diese Singeveranstaltung, wenigstens in Deutschland, einstmals „Grand Prix Eurovision de la Chanson“. Der Genießer schöner Lieder wird hinter dieser Bezeichnung – berechtigterweise – einen gewissen Anspruch vermuten. Denn ein Großer Preis kann doch nur an Lieder, Schlager, Chansons oder Songs vergeben werden, die sich dieses Preises würdig erweisen, die das Zeug dazu haben, allein durch sich selbst, durch die Musik und bestenfalls auch durch einen sinnreichen, gehaltvollen Text, Produkte für die Ewigkeit zu werden. Dabei darf natürlich nicht verkannt werden, dass der jeweils aktuelle Geschmack oder Zeitgeist auch hier eine Rolle spielen. 

Als Beispiele, die diesem Anspruch weitgehend gerecht wurden, seien hier Nicole mit ihrem Siegertitel „Ein bisschen Frieden“ aus dem Jahr 1982 oder Udo Jürgens mit „Merci Chérie“ im Jahre 1966 aufgeführt, woran sich eine einmalige Karriere anschloss. Gleiches gilt natürlich für die schwedische Popgruppe ABBA, die nach ihrem Sieg mit „Waterloo“ im Jahre 1974 ebenfalls abgingen wie eine Rakete. Dass diese oder ähnliche Songs möglicherweise nicht jedermanns Geschmack waren, steht hier auf einem ganz anderen Blatt.

Mittlerweile ist es jedoch schlechte Tradition geworden, dass seit einigen Jahren die Siegertitel in den meisten Fällen im Nirgendwo verschwinden, weil sie dem Anspruch auf Einprägsamkeit nicht mehr genügen, sondern vor allem durch schrille Auftritte glänzen, die zwar den Augen weh tun, sich aber nicht im Gedächtnis festsetzen. Es hat den Anschein, dass einige Teilnehmer mehr Augenmerk auf ihre Bühnenkleidung und die Choreographie legen, die musikalische und textliche Komponente jedoch stiefmütterlich behandeln. In Turin gehörten neben anderen die Vertreter Norwegens und der Ukraine in diese Kategorie. Andere wiederum, so auch der deutsche Beitrag zeichneten sich dagegen eher durch ein minimalistisch gestaltetes Bühnenbild aus, welches die durchaus vorhandene inhaltliche Botschaft nicht unterstützen konnte. Der ESC, so scheint es, ist nur noch selten in der Lage, wirklich große Stars zu generieren. Da kann sich dann automatisch auch die Frage anschließen, ob das Konzept noch zeitgemäß ist. Dem Motto von Turin, „The Sound of Beauty“ wurden die wenigsten Beiträge gerecht, eventuell Island und Schweden. Aber das ist sowieso Geschmackssache.

Um der Vollständigkeit Genüge zu tun, muss man auch auf die Moderatoren der Show eingehen, die mit einem einstudiert wirkenden Redeschwall viel Zeit für sich in Anspruch nahmen, dem Abend aber nicht wirklich einen roten Faden verliehen. Der eine, Mika, versuchte durch zwanghafte Lustigkeit zu glänzen, wirkte dabei aber überdreht und somit von künstlichem Humor. Die andere, Laura Pausini, war offensichtlich der körperlichen Belastung nicht gewachsen und musste der Bühne über eine längere Zeit fern bleiben. Warum dann noch eine dritte Figur, Alessandro Cattelan, danebengestellt wurde, war schwer zu ergründen.

Relativ tapfer hat sich hingegen der bereits genannte Peter Urban geschlagen, der ja nichts anderes machen konnte, als das zu kommentieren, was auf der Bühne geboten wurde. Dank seiner feinen Ironie konnte man dann wenigstens an einigen Stellen schmunzeln. Aber auch ihm war anzumerken, dass der ESC 2022 Luft nach oben hatte. Es bleibt die Hoffnung, dass 2023 besser wird.

Ja, und was sagt man zum Kalush Orchestra aus der Ukraine und dem Siegerbeitrag „Stefania“? Das Erreichen des Spitzenplatzes dürfte vorwiegend Ausdruck eines von der russischen Invasion genährten Solidaritätsgedankens bei den Zuschauern gewesen sein, die eine überragende Punktzahl (439) zum Gewinn beisteuerten. Die Jury-Bewertung fiel dagegen mit Platz vier und 192 Punkten deutlich niedriger aus. Einige Zeit wird dieser Song sicherlich noch im Äther zu hören sein, das Zeug zum Hit hat er aber nicht. Es war im wesentlichen eine politische Entscheidung, auf die die Medien in Europa schon vor dem Wettbewerb eingestimmt hatten. Eben das machte die Show zu einer grotesken Veranstaltung, bei der die Vertreter der anderen 24 Staaten doch nur Staffage waren. Wenn das die Regel wird, verliert der ESC Sinn und Berechtigung. Solange er den Veranstaltern aber noch eine akzeptable Gewinnspanne garantiert, werden wir wohl mit ihm leben müssen.