Am Abend des 5. September 1961 findet im Leipziger „Spötterkeller“ in der Ritterstraße die letzte Vorstellung des Studentenkabaretts Rat der Spötter statt, was zum damaligen Zeitpunkt keiner der Spötter ahnte. Also dass es die letzte werden würde.
Unter dem Titel „Wo der Hund begraben liegt“ präsentieren elf Leipziger Studenten ihr neuestes Programm vor der Kulturkommission der Karl-Marx-Universität. Die Vorstellung beginnt auf einem imaginären Friedhof. Laut Regieanweisung herrscht Geisterstimmung. Zu hören sind Rattengekrächz und Hundegebell. Eine blecherne Glocke schlägt zwölfmal. Geister verkünden im Sprechgesang:
Es heult der Nord, die Glocke schallt,
zur Mitternacht im Geisterwald.
Es brechen polternd Gräber auf.
Der Toten Geist steigt fahl herauf.
Und Nebel wallen aus der Gruft.
Wir Geister atmen frische Luft.
Wissend sehen wir den Lauf der Welt,
was sie im Innersten zusammenhält.
Wir wissen, daß der Sozialismus siegt
und wo der Hund begraben liegt.
Seht doch, der Totengräber naht,
jahrzehntelang geht er den Pfad,
und sucht des nachts zur Geisterstunde
die tausend kleinen dicken Hunde.
Autor und Interpret dieser Zeilen, wie auch weiterer Texte des legendären Kabarettprogramms von 1961 ist „Schnafte“, laut Textbuch Peter Seidel, Journalistik-Student im 3. Studienjahr.
Die Zensoren Gottfried Handel, Otto Seifert, Rudolf Gehrke, Georg Perlbach, Lucie Hahn und die sie begleitenden Funktionäre lassen dieses Entree und weitere neunundzwanzig Nummern diszipliniert über sich ergehen. Nur gelegentlich ist kritisches Gemurmel zu vernehmen, wie „unerhört“ und „Frechheit“.
Nach dem Finale herrscht zunächst eine gespannte Stille. Dann entbrennt eine heftige Diskussion. In deren Ergebnis verkündet Genosse Handel als Vertreter der Universitäts-Parteileitung: „Das Programm, das wir soeben mit ansehen mussten, Genossen, wird in der vorliegenden Form nicht aufgeführt. Es ist politisch falsch, schlimmer, es ist eine konterrevolutionäre Sauerei!“
Der Begriff „konterrevolutionär“ erschlägt jede weitere sachliche Debatte. Er ist gleichzeitig Ausgangspunkt für alle weiteren Maßnahmen um dieses Kabarettprogramm.
Vier Tage später werden auf Betreiben der SED-Kreisleitung der Universität, bestehend aus den Funktionären Hans-Joachim Böhme, Gottfried Handel, Klaus Höpke und Heinz Schmidt, sowie nach Abstimmung mit Paul Fröhlich und Hans Lauter von der SED-Bezirksleitung Leipzig die Studenten Manfred Albani, Hans-Martin Benecke, Peter Seidel, Peter Sodann und der Grafiker Rolf Herschel verhaftet.
Im Fall von Peter Seidel liest sich das folgendermaßen:
Leipzig, 9. September 1961 – Festnahmebericht
Lt. Auftrag der Abt. V der BV Leipzig sollte am 9.9.1961 der Seidel, Peter, geb. am 10.10.1934 in Berlin, wh. Leipzig O27, (Straße: geschwärzt), offiziell festgenommen werden.
Der S. wurde 7.00 Uhr in seiner Wohnung aufgesucht. Er bewohnt ein Zimmer in Untermiete.
Seine Vermieterin führte die Genossen in das Zimmer des S., dieser wurde schlafend im Bett angetroffen.
Er wurde aufgefordert sich anzuziehen und uns zu folgen. Der S. stellte keine Fragen und folgte widerspruchslos.
Er wurde am 7.20 Uhr der Abt. IX Gen. Hoffmann übergeben.
Bei der Festnahme gab es keine Zwischenfälle.
Hartmann, Leutnant
(aus: BSTU LPZ AU 871/62, Bd. 3, Blatt 0009)
Nach Einzelhaft und monatelangen Verhören durch die Stasi werden Peter Seidel wie auch die anderen Untersuchungshäftlinge – zu ihnen gehört ebenfalls der wenige Tage später Inhaftierte Ex-Spötter Ernst Röhl – im Rahmen einer vom DDR-Staatsrat verkündeten Amnestie mit kurzem Prozess im Juni 1962 vorzeitig aus der Haft entlassen.
Peter Seidel absolviert als Hilfsdreher für 1,24 Mark Stundenlohn im VEB Galvanotechnik Leipzig eine zweijährige „Bewährung in der Produktion“. Dann erhält er eine neue Chance als Satiriker. Der Direktor der Dresdner Herkuleskeule, Manfred Schubert, verpflichtet ihn als Dramaturg. Dort sowie später auch für die Leipziger Pfeffermühle und die Hallenser Kiebitzensteiner verfasst er zahlreiche Kabarett-Texte.
1966 zieht es ihn zur Familie zurück nach Leipzig. Nach kurzem frustrierenden Zwischenspiel bei der Leipziger Konzert- und Gastspieldirektion – ihm obliegt die Organisation von Unterhaltungsprogrammen – arbeitet er zwölf Jahre lang bei der DEWAG und anschließend bis zur Rente bei der DHfK im Bereich Sportbauten.
Bereits seit den 1970er Jahren gehört sein besonderes Interesse der Leipziger und sächsischen Geschichte. So publizierte er nach intensiven Recherchen zahlreiche Anekdoten, historische Beiträge und Abhandlungen zu Leipziger Künstlern, über das sächsische Königreich einschließlich seiner Kurtisanen, zum Brühl, zum Rennplatz Scheibenholz, zur Stadtreinigung, zu einer 1799 erschienenen Skandalchronik des Magisters August Salomon Maurer über die Leipziger Bourgeoisie und anderes mehr.
Erschienen sind viele dieser skurrilen, mit hohem Einfühlungsvermögen geschriebenen Geschichten vorrangig in den Mitteldeutschen Neuesten Nachrichten und der Freiheit (heute Mitteldeutsche Zeitung). Auf die Frage, warum er als Leipziger in Halle publiziere, antwortete er auf seine schnoddrige Art: „Die LVZ [Leipziger Volkszeitung – J.K.] wollte diese Artikel nicht, und dann wollte ich auch nicht.“
Auch nach dem Fall der Mauer bleibt Peter Seidel der Satire treu. Als verantwortlicher Redakteur lässt er 1993 die von Hans Reimann 1919 gegründete Zeitschrift Der Drache wiederauferstehen.
Seinem „Freund“ Walter Ulbricht widmet der Briefmarkensammler eine Sondermarke und vermerkt zu deren Entstehungsgeschichte: „Am 13. August 1961, dem Tag des Mauerbaues, stellte ich meine Tätigkeit als Briefmarkensammler ein. Ich hatte keine Lust, den Staatshaushalt der DDR mit meinem Geld für Briefmarken zu sponsern. Am 9. November 1989, dem Tag des Mauerfalls, begann ich mich wieder für Briefmarken zu interessieren, jedoch für eigene. Ich versuchte meinen Freund und Grafiker Rolf Herschel, mit dem ich 1961 bis 1962 wegen ‚staatsgefährdender Hetze‘ und ‚Vorbereitung der Konterrevolution‘ im Gewahrsam der Staatssicherheit war, für mein Projekt scharf zu machen. Thema: ‚Die Gestaltung einer Sonderbriefmarke zu Ehren des Erbauers der Mauer‘. Nach kurzer Zeit zeigte mir Rolf seinen satirischen Entwurf der Ulbricht-Briefmarke [den Kopf von Walter Ulbricht ziert eine Mauerkrone, darunter vermerkt sind eine 30 sowie LIMES ULBI TYR. – J.K.]. Ich montierte das kostbare Einzelstück zu einem Bogen. So stellte ich fleißig Ulbricht Sonderbriefmarken her. In meiner Stammkneipe machte ich damit glänzende Geschäfte. Ein Stück kostete eine Mark.“
Am 5. September 2021, dem 60. Jahrestag des Kabarett-Verbots, trafen sich einige der noch vom Rat der Spötter Verbliebenen in ihrem „Schmieren-Restaurant Paulaner“, wie sie es nannten. Der bis heute umtriebige Spötter-Chef „Gomorrha“, Peter Sodann, ließ es sich nicht nehmen und holte seinen Freund „Schnafte“ persönlich mit dem Auto von zu Hause ab. Im Parkhaus am Markt hätten sie sich fast verirrt. Umso überschwänglicher wurden sie von der wartenden Runde begrüßt. Es war der letzte gemeinsame „öffentliche Auftritt“ der beiden „Spötter“.
Peter Seidel verstarb am 28. März 2022 im Alter von 87 Jahren.
Jürgen Klammer ist studierter Ökonom; seit nahezu 20 Jahren beschäftigt er sich mit der Aufarbeitung des DDR-Kabaretts; seine Publikationen erscheinen im selbstironieverlag; er lebt in Leipzig.
Schlagwörter: Jürgen Klammer, Kabarett, Peter Seidel, Rat der Spötter