25. Jahrgang | Nummer 8 | 11. April 2022

Washington und Roosevelt – unvollendet

von Thomas von Steinaecker

Wenn Künstler, seien sie nun Maler, Baumeister, Komponisten, Schriftsteller, Bildhauer, Dramatiker, Filmemacher oder mit anderweitigem Schöpfertum begnadet, konkret ans Werk gehen, dann besteht das Ziel des Schaffensprozesses in der Regel im Abliefern eines vollendeten – hier im Sinne von zu Ende gebrachten – Kunstwerkes. Dass dabei die Möglichkeit des Scheiterns oder auch nur der Nichtvollendung als Alternative stets mit an den Start geht, wird spätestens dann offenbar, wenn der Schaffensprozess abgebrochen wird oder nicht abgeschlossen werden kann. Die Gründe dafür können ganz unterschiedlich sein – freie Entscheidung des Künstlers, einfach nicht weiterzumachen, ebenso wie Geldmangel, vordringlichere neue Aufträge oder gesundheitliches Gehindertsein, gar Ableben des Schaffenden, wobei die letzteren beiden Volten auch seinem Modell widerfahren können (siehe unten!); Unvermögen des Künstlers, seine Vorstellungen in der von ihm imaginierten Weise zu materialisieren, und so weiter, und so weiter und so fort.

An derartigen Ereignissen herrscht in der Entwicklung und Geschichte der Kunst sowie unter ihren auf uns Lebende gekommenen Zeugnissen kein Mangel. Ob es etwa die gescheiterte Idee der Stadtväter von Florenz im Jahre 1504 anbetrifft, die beiden größten, einander in vornehmer Abneigung gegenüberstehenden Künstler ihrer Epoche, Leonardo da Vinci und Michelangelo, gemeinsam den großen Sitzungssaal des Rates ausmalen zu lassen, oder den Versuch, beim Bau der Kathedrale von Beauvais im 16. Jahrhundert mit einem 154 Meter messenden Kirchturm das damals höchste Gebäude der Welt zu errichten, das jedoch nur vier Jahre nach seiner Vollendung in sich zusammenbrach.

Sprung ins 20. Jahrhundert: Orson Welles war zweifellos als Schauspieler wie als Regisseur ein Ausnahmekünstler. Nach Auffassung nicht weniger Kritiker und Cineasten hat er mit Citizen Kane einen der besten, wenn nicht den besten Film der Kinogeschichte gedreht. Doch wer wusste je oder weiß gar heute noch, dass Welles zugleich der König des Scheiterns war – mit zahllosen Werken, die in unterschiedlichen Stadien ihrer Entstehung auf der Strecke blieben? Oder dass Stanley Kubrick, ein anderer Ausnahmeregisseur, nach Jahren der Vorbereitung zu seinem monumentalsten Vorhaben, einem Spielfilm über Napoleon, zwar 15.000 Fotos möglicher Drehorte zusammengetragen und Schlachtenszenen mit bis zu 40.000 rumänischen (preiswerten!) Fuß- und 10.000 berittenen Soldaten geplant hatte, dann jedoch keinen einzigen Filmmeter finanziert bekam?

Insofern verwundert es durchaus, dass – vorliegendem Kenntnisstande des Schreibers zufolge – bisher niemand auf die Idee gekommen ist, mal ein Kompendium der gescheiterten Kunstwerke und ihrer jeweiligen Vita zusammenzustellen. Thomas von Steinaecker ist es zu danken, dass nunmehr ein Anfang gemacht wurde, diese Lücke zu schließen. Herausgekommen ist ein Potpourri höchst interessanter, oft überraschender Episoden und Geschehnisse aus dem Bereich des Kunstschaffens von der Renaissance bis in unsere Tage. Nachfolgend eines der kürzeren Kapitel aus Steinaeckers nicht zuletzt reichlich illustriertem Konvolut.

Alfons Markuske

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Das berühmteste Porträt eines Präsidenten, millionenfach reproduziert auf Merchandise-Artikeln und seit 1869 auf dem Ein-Dollar-Schein abgebildet, ist ein Fragment: Gilbert Stuarts George Washington. In den 1780ern erzielte Stuart mit seinen Porträts in England gute Preise, lebte jedoch über seine Verhältnisse, so dass er vor seinen Schuldigern nach Irland floh, wo sich bald darauf dasselbe Muster wiederholte, so dass er 1793 Hals über Kopf, eine Reihe unvollendeter Bilder zurücklassend, in seine Heimat, die USA, zurückkehrte. Angesichts der gerade erkämpften Unabhängigkeit der jungen Nation, hatte Stuart als ebenso brillanter Maler wie Geschäftsmann eine ziemlich einfache, aber auch ziemlich gute Idee: „Ich denke, ich werde allein durch Washington ein Vermögen verdienen. Ich rechne damit, eine ganze Reihe von Porträts von ihm anzufertigen. Damit werde ich all meine Schulden in England und Irland bezahlen.“ Stuart sollte recht behalten. Nach einem ersten schmeichelhaften Porträt saß der alte Washington auf Drängen seiner Frau Martha, die ebenfalls verewigt werden wollte, geduldig Modell. Doch Stuart ließ das Gemälde, nachdem er lediglich den Kopf Washingtons gemalt hatte, unvollendet. Mit dem Bild unter dem Arm machte er sich aus dem Staub. Allerdings vergaß er nicht, um Erlaubnis zu fragen, das Fragment weiterverwenden zu dürfen. Er wusste: Mit seinem breiten Kinn, den entschlossen zusammengepressten Lippen, dem kühl fixierenden Blick und eleganten weißen Locken hatte er Washington genau so getroffen, wie die patriotische Öffentlichkeit sich ihren Anführer wünschte. Das Gemälde „nach dem Leben“ wurde zur Blaupause für über 60 Kopien, die Stuart in den folgenden Jahren anfertigte und ihn zum wohlhabenden Mann machten – und zum „offiziellen“ Porträt-Maler weiterer fünf US-Präsidenten.

Fast 150 Jahre später. Noch ein offizielles Porträt eines US-Präsidenten, des 32., Franklin D. Roosevelt. Und noch eines, das auf spektakuläre Weise unvollendet blieb. Allerdings nicht, weil sein Schöpfer aufgab, sondern weil sein Modell starb und zwar, historisch einmalig: während des Malprozesses.

Elizabeth Shoumatoff muss eine außergewöhnliche und hochbegabte Frau gewesen sein. 1888 geboren in Russland, flüchtete sie in den Wirren der Oktoberrevolution in die USA. Nachdem ihr Mann 1928 bei einem Unfall ertrank, fiel ihr die Aufgabe zu, allein für ihre Familie zu sorgen. Kurzerhand machte Shoumatoff ihr Hobby zum Beruf: das Malen. Obwohl sie Autodidaktin war, erfreuten sich ihre realistischen Wasserfarbenporträts bald größter Beliebtheit unter den Reichen und Wichtigen des Landes. Bis zu ihrem Tod 1980 malte sie über 2000 solcher Bilder und war damit in gewisser Weise eine typische Repräsentantin des amerikanischen Traumes. Was Shoumatoff aber für immer in die Geschichte eingehen ließ, hat weniger mit ihrer Leistung als Künstlerin zu tun, als mit dem Zufall, zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort gewesen zu sein. Oder aber am falschen. Wie man’s nimmt.

Die frühere Liebschaft und lebenslange Freundin von Franklin D. Roosevelt, Lucy Mercer Rutherfurd, war von Shoumatoffs Arbeiten derart angetan, dass sie dem Präsidenten vorschlug, sich doch von ihr porträtieren zu lassen. Kein bisheriges Gemälde treffe FDR’s Charakter wirklich. Weder Roosevelt noch Shoumatoff, die die Politik des Präsidenten ablehnte, waren von diesem Vorschlag begeistert; aber auf Rutherfurds Drängen kam es schließlich 1943 doch zu einer Sitzung, bei der ein kleines Bild entstand. Roosevelt zeigte sich darüber hocherfreut, die Malerin wiederum war von Roosevelts Charme beeindruckt, so dass beschlossen wurde, das nächste Mal solle sie ein „richtiges“, „offizielles“ Porträt für das Weiße Haus schaffen. Roosevelt hatte aber noch einen Weltkrieg zu Ende zu führen. Erst 1945 fand er im sogenannten Little White House, in seinem persönlichen Zufluchtsort in Georgia, die Zeit für eine weitere Sitzung. Roosevelt, der von Kindheit an den Folgen einer schweren Kinderlähmung litt, war damals ein kranker Mann. Zwölf Jahre lang war der Demokrat da bereits Präsident, hatte das Land aus einer Wirtschaftskrise herausgeführt, den New Deal auf den Weg gebracht und war in den Zweiten Weltkrieg eingetreten. Umso erfreuter war Shoumatoff, als am dritten und letzten Tag ihrer Sitzung, am 12. April 1945, Roosevelt deutlich frischer erschien. Das unvorteilhafte Grau seines Gesichts war einer gesunden Farbe gewichen. Perfekt für Shoumatoffs Wasserfarben! Der Butler erschien, um das Mittagessen aufzutragen, Roosevelt gab ihm Bescheid, dass er mit der Malerin noch fünfzehn Minuten brauche. Kurz darauf kippte er in seinem Stuhl nach vorne. Sofort war ein Ärzteteam zur Stelle, aber bis zu seinem Tod wenige Stunden später erlangte Roosevelt nicht mehr das Bewusstsein.

Shoumatoff ließ das Gemälde unvollendet. Und man kann sich fragen, ob dem, was sie nicht mehr malte, ein tieferer Sinn innewohnt. Nicht, weil Shoumatoff, als sie später eine weitere Version des Porträts aus dem Gedächtnis schuf, aus Roosevelts roter (republikanischer) Krawatte, die er am Tag seines Todes getragen hatte, eine blaue (demokratische) machte. Nein: Roosevelt sollte ursprünglich im unteren Teil des Bildes eine Schriftrolle halten. Sie symbolisierte die Charta der Vereinten Nationen, die Roosevelt im selben Jahr mit ins Leben gerufen hatte und deren Gründungsschrift er wenige Wochen später in San Francisco hätte unterzeichnen sollen.

Bis heute ist an dieser Stelle auf dem Bild ein blinder Fleck.

Aus – Thomas von Steinaecker: Ende offen. Das Buch der gescheiterten Kunstwerke, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2021, 604 Seiten, gebunden: 35,00 Euro; Kindle: 30,99 Euro.