von Wolfgang Schwarz
Es ist gewiß nicht die gefühlte Regel, aber bisweilen vertreten führende Politiker in der Opposition und vor Wahlen Positionen oder Forderungen, an denen sie auch nach den Wahlen und sogar nach Eintritt in die Regierung festhalten. Ein solcher Fall könnte FDP-Chef und Bundesaußenminister Guido Westerwelle sein. Er forderte in den vergangenen Jahren wiederholt den Abzug der letzten atomaren Gefechtsfeldwaffen der USA aus der Bundesrepublik. Ein Bundesparteitag der FDP in Hannover im Mai 2009 nahm diesen Punkt in „Liberale Forderungen für Abrüstung und Rüstungskontrolle im 21. Jahrhundert“ auf, und Westerwelle setzte durch, daß eine entsprechende Passage auch Eingang in die Koalitionsvereinbarung der schwarz-gelben Regierung nach den Wahlen vom 27. September 2009 Eingang fand.
Am Ende des Kalten Krieges, zu Beginn der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts lagerten noch einige Tausend sogenannter substrategischer Kernsprengköpfe der US-Streitkräfte mit Reichweiten unter 5 500 km auf zahlreichen Militärbasen in diversen westeuropäischen NATO-Staaten. Die militärische Begründung für ihre Einführung und massenhafte Stationierung seit den 50er Jahren war aus der angenommenen Überlegenheit der Streitkräfte des Warschauer Vertrages, insbesondere der Sowjetarmee, im konventionellen Bereich hergeleitet worden. Im Konfliktfall sollte dieses Defizit gegebenenfalls durch Einsatz taktischer Kernwaffen auf dem Gefechtsfeld ausgeglichen werden. Das wäre voraussichtlich vor allem auf dem Territorium der damaligen beiden deutschen Staaten der Fall geschehen, auf denen die konventionellen Hauptkräfte der beiden Bündnissysteme in Europa konzentriert waren.
Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts durch den Zerfall des Warschauer Vertrages und der Sowjetunion, mit dem Rückzug der sowjetischen Streitkräfte hinter die russischen Landesgrenzen, mit den Reduzierungen konventioneller Waffenbestände im Ergebnis der KSE-Vereinbarungen und nicht zuletzt durch den langjährigen Niedergang der russischen Streitkräfte sind diese militärischen Begründungszusammenhänge komplett entfallen. Dem haben die USA Rechnung getragen und seither – unter strikter Geheimhaltung sowie unauffälliger operativer Durchführung – die übergroße Masse ihrer taktischen Kernwaffen einseitig aus Europa abgezogen, und auch die letzten Bestände etwa aus Griechenland verschwanden bereits 2001 sowie aus Großbritannien 2008. Selbst auf amerikanischen Basen in der Bundesrepublik sind die Depots seit 2005 leer, nachdem die letzten Systeme aus Ramstein abgezogen worden waren. Die USA ließen sich dabei ausschließlich von ihren eigenen Sicherheitsinteressen leiten und zeigten keinerlei Intentionen, etwa mit Rußland, das ebenfalls über große Bestände an taktischen Kernwaffen verfügt, Vereinbarungen über einen gegenseitigen Abbau zu treffen. Die taktischen Kernwaffen des bisherigen Hauptgegners wurden in Washington nicht mehr als Bedrohung für amerikanische Streitkräfte angesehen, und eine potenzielle Bedrohung von NATO-Verbündeten gab offensichtlich ebenfalls kein hinreichendes Motiv ab.
Nach Auffassung einschlägiger Experten – zum Beispiel der Federation of American Scientists (FAS) – lagern derzeit lediglich noch bis zu 240 taktische US-Kernwaffen auf Stützpunkten in der Türkei, in Italien, Belgien, den Niederlanden und der Bundesrepublik. Es soll sich in allen Fällen um frei fallende thermonukleare Bomben vom Typ B 61 zum Einsatz mit Flugzeugen handeln, die vornehmlich bis 1989 in verschiedensten Varianten und in großer Stückzahl produziert wurden.
Beim Restbestand in der Bundesrepublik– insgesamt 10 bis 20 Bomben – soll es sich um die älteren Varianten der Modelle (Mod) 3 und 4 handeln, mit flexibler Sprengkraft von bis zu 170 Kilotonnen. (Zum Vergleich: Bei der Hiroshima-Bombe lag dieser Wert bei etwa 13 Kilotonnen) Das unter amerikanischer Kontrolle stehende Depot befindet sich auf dem Fliegerhorst Büchel des Jagdbombergeschwaders 33 in der Eifel, denn diese Waffen sind ausschließlich zum Einsatz mit Tornados der Bundesluftwaffe vorgesehen, die diesen Einsatz regelmäßig trainieren. Und während die konventionellen Tornados der Bundesluftwaffe mit Zuführung des (nicht nuklearfähigen) Eurofighters bis 2015 ausgemustert werden, sollen die potenziellen Kernwaffenträger noch mindestens bis 2020 im Einsatz bleiben.
Im NATO-Fachjargon wird dieses duale System – amerikanische Kernsprengköpfe plus nationale Trägermittel anderer NATO-Staaten – als Nukleare Teilhabe bezeichnet. Dadurch würde die Bundesrepublik, die dem Kernwaffensperrvertrag (NPT) angehört und demgemäß völkerrechtlich verbindlich auf Produktion und Erwerb von sowie auf Verfügungsgewalt über Kernwaffen bindend verzichtet hat, nach amerikanischer Freigabe der Waffen de facto zur Atommacht.
Politisch wird damit seit langem das Regime des NPT untergraben. Ländern mit Kernwaffenambitionen wie Indien, Pakistan, Nordkorea und nicht zuletzt Iran wurde und wird dadurch in die Hände gespielt. Und die Frage nach dem militärischen Sinn der Nuklearen Teilhabe beantwortet sich allein mit dem Hinweis darauf, daß die Tornados selbst im Fall von One-Way-Missions lediglich eine Reichweite von 2 500 Kilometern haben. Damit könnten zwar theoretisch Ziele im europäischen Teil Rußlands angegriffen werden, aber in welches ernsthafte Szenarium sollte eine solche Zielplanung eingebettet sein? In jedem Fall aber gilt, daß Stützpunkte mit Kernwaffen selbst prioritäre Ziele für potenzielle Gegner sind. Wenn diese ihrerseits über geeignete Raketensysteme verfügen, dann sind im Konfliktfall präventive Schläge zur Ausschaltung dieser Ziele nicht auszuschließen. Rußland jedenfalls verfügt über geeignete (nukleare) Systeme.
Übrigens haben NATO-Partner wie Griechenland, die Türkei und Kanada zum Teil bereits vor Jahren auf die aktive Ausübung der Nuklearen Teilhabe mit nationalen Trägersystemen verzichtet.
Trotzdem: Auch in der laufenden Legislaturperiode wird sich die Realisierung von Guido Westerwelles und der FDP Forderung nach Leerung des Depots in Büchel nicht im Selbstlauf vollziehen, und das liegt nicht in erster Linie an den Amerikanern. Von denen behaupten Experten, sie würden den Schritt lieber heute als morgen vollziehen – allein wegen der finanziellen Kosten und wegen der Risiken eines denkbaren terroristischen Anschlags oder Zugriffs auf das Depot. Einen Alleingang scheuten sie jedoch, um den wichtigen Verbündeten in Berlin nicht zu brüskieren. Die Amerikaner wissen augenscheinlich, daß ein Aufrechterhalten der Nuklearen Teilhabe in Deutschland nach wie vor einflußreiche Befürworter hat.
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