In den 1920er Jahren machten sich die Physiker in vielen Ländern auf den Weg zu den Atomen im Innersten der Welt. Um ihnen auf die Spur zu kommen, mussten sie mutig vorangehen und alte Vorstellungen über Bord werfen. Noch 1899 hatte der spätere amerikanische Nobelpreisträger Albert Michelson verkündet: „Die wichtigsten Grundgesetze und Fakten der physikalischen Wissenschaften sind alle bereits entdeckt.“ Während also im 19. Jahrhundert noch stolz die klassische Physik gelehrt wurde, bekam das ehrfurchtgebietende Haus der Physik zu Beginn des 20. Jahrhunderts massive Risse. Sein Boden begann zu schwanken. Die vertraute Mechanik wurde durch eine neue und ziemlich verrückte Theorie der Atome ersetzt. In der Folge feierte die „Quantenmechanik“ erstaunliche Triumphe.
Der Physiker Ernst Peter Fischer, der an den Universitäten von Konstanz und Heidelberg Wissenschaftsgeschichte lehrte, beschreibt in „Die Stunde der Physiker“, wie die Physiker im 20. Jahrhundert nicht zögerten, in das geheimnisumwitterte Innerste der materiellen Welt vorzudringen. Dabei tat sich ein Meer von „dynamischen Möglichkeiten“ auf. In „Zehn Schritten durch die Zeit“ (zehn Kapiteln) breitet der Autor wissenschaftlich anschaulich und versiert die radikale Erneuerung der Naturbeschreibung aus, wobei der Schwerpunkt auf dem bedeutenden Jahrzehnt zwischen 1922 und 1932 liegt. Zunächst gibt er aber einen Überblick über die physikalischen Entdeckungen in den beiden ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Die Quantentheorie durch Max Planck (1900) und die Relativitätstheorie durch Albert Einstein führten zu einer grundlegenden Umgestaltung der Physik. Schließlich entwarf der dänische Physiker Niels Bohr 1913 ein Atommodell, das Elemente der Quantenmechanik enthielt.
In den nachfolgenden Kapiteln zeigt Fischer die weitere Entwicklung der modernen Physik, die auch immer wieder durch Irrtümer begleitet war. Energie, Entropie, Matrizenmechanik, Teilchenspin, Wellenmechanik, Schrödinger-Gleichung, Doppelspalt, Heisenberg-Modell, Bosonen und Fermionen … der „Wahnsinn“ (so der Autor selbst) der Quantenideen nahm kein Ende. Die Geschichte dieser großartigen Entdeckungen (und teilweise Fehldeutungen) wird anhand der Protagonisten wie Marie Curie, Hendrik Lorentz, Max Planck, Albert Einstein, Niels Bohr, Erwin Schrödinger, Werner Heisenberg, Otto Hahn, Lise Meitner, Paul Dirac und vieler anderer erzählt. So ist der Einstieg in die Neuerscheinung ein Gruppenbild, das 28 Teilnehmer und eine Dame während der Solvay-Konferenz im Jahre 1927 zeigt. Die Dame mitten in der Männerwelt ist Marie Curie, die zu Recht in der ersten Reihe sitzt, wurde sie doch zweimal mit dem Nobelpreis ausgezeichnet.
Dank zahlreicher Episoden und Anekdoten wird der Leser Zeuge, wie die Wissenschaftler miteinander (auch gegeneinander) um die Wahrheit rangen, wie sie in schlaflosen Nächten sich mit der Materie auseinandersetzten, über Wochen oder Monate neue Theorien entwickelten, nach wissenschaftlichen Beweisen suchten, um schließlich Gesetze zu formulieren. Sie treten uns als Menschen entgegen, deren Unbeirrbarkeit und Kühnheit des Denkens zu bahnbrechenden Entdeckungen führte.
Im Frühjahr 1932 konnten sich die Physiker ein letztes Mal friedlich versammeln – aus einem zweifach erfolgreichen Anlass: die Existenz des Neutrons war nachgewiesen worden und der experimentelle Nachweis war gelungen, dass es tatsächlich Positronen und Antimaterie gibt, was Dirac bereits 1928 mit seiner Gleichung vorausgesagt hatte. Die Quantenphysiker waren im Innersten der Welt angekommen. Was für ein Fest für die Menschheit hätte das werden können. Doch mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges und der Entwicklung der Kernwaffen verloren die Wissenschaftler ihre Unschuld. Die Quantenphysik führt immer wieder auch auf philosophisches Terrain und so befassten sich fast alle berühmten Physiker dieser Zeit mit den philosophischen Konsequenzen ihrer revolutionären Entdeckungen in der Relativitätstheorie und der Quantenmechanik.
In seinem Epilog gesteht Fischer, dass die Quantenmechanik mit ihrer Komplexität – salopp ausgedrückt – „eine Beleidigung für den gesunden Menschenverstand“ sei. Atomare Objekte sind aber nun einmal anders als die aus unserem Alltag. Doch mit „Die Stunde der Physiker“ bietet Fischer einen packenden Streifzug durch die spannendsten und aktuellsten Themen der modernen Physik. Komplizierte physikalische Zusammenhänge werden so verständlich wie möglich beschrieben; auch für Leserinnen und Leser, die nur über ein physikalisches Grundwissen verfügen. Gekonnt versteht es der Autor, die Geschichte der modernen Physik mit den Lebensläufen und dem Wirken außergewöhnlicher Physiker zu verbinden.
Ernst Peter Fischer: Die Stunde der Physiker – Einstein, Bohr, Heisenberg und das Innerste der Welt, Verlag C.H.Beck, München 2022, 288 Seiten, 25,00 Euro.
Schlagwörter: Ernst Peter Fischer, Manfred Orlick, Physik, Quantenmechanik