25. Jahrgang | Nummer 3 | 31. Januar 2022

Berliner Museumsgänge – Kurt Schwaen, Jutta Mirtschin und das Bauhaus

von Alfred Askanius

Die Bezirksmuseen Berlins leisten, wozu sich die „Großen“ nicht in der Lage sehen: Sie stellen die Geschichte dieser Stadt und der Menschen, die in ihr lebten und leben, auf eine Art und Weise dar, die jenseits der üblichen „Event“-Kultur auf Bedeutendes aufmerksam macht. Auf wichtige Komponisten des 20. Jahrhunderts zum Beispiel … sagen wir mal auf Kurt Schwaen. In der DDR Aufgewachsenen klingt sicher sein Lied „Wer möchte nicht im Leben bleiben …“ noch im Ohr. Es stammt aus Heiner Carows Film „Sie nannten ihn Amigo“ (1959). Das Bezirksmuseum Marzahn-Hellersdorf widmet dem Komponisten derzeit eine große Sonderausstellung.

Schwaen lebte und arbeitete von September 1956 bis zum seinem Tod 2007 in Mahlsdorf. In seinem Haus Wacholderheide 31 befindet sich das von Ina Iske-Schwaen mit bemerkenswerter Qualität geführte Kurt-Schwaen-Archiv, dessen Grundstock Schwaens Nachlass bildet. Die Zukunft des Archivs ist ungewiss. Die Akademie der Künste – der der Komponist seit 1961 angehörte – kann sich wohl allenfalls für wenige ausgesuchte „Rosinen“ erwärmen, der Stiftung Stadtmuseum scheint ebenso wie der Staatsbibliothek das Archiv egal zu sein. Seit einigen Jahren interessiert sich aber Katowice (Śląskie) für ihn. In Kattowitz wurde Schwaen 1909 als Sohn einer Kaufmannsfamilie geboren.

Die Marzahner Ausstellung zeichnet seinen Lebensweg mit wenigen, aber eindrucksvollen Exponaten nach. Dazu gehören die Zeugnisse der Verfolgung durch die Nazis: Aufgrund einer dreijährigen Zuchthausstrafe „wegen Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens“, landete der „bedingt wehrwürdige“ Komponist in der Strafdivision 999. Nach der Entlassung aus dem Zuchthaus bis zur Einberufung war er als Korrepetitor in einem Berliner Tanzstudio tätig. Hier begegnete er unter anderem Oda Schottmüller. Der 1943 ermordeten Tänzerin und Bildhauerin widmete Schwaen um 1940 ein kurzes Klavierstück: „Stille. Nur für Oda Schottmüller“. Es ist in der Ausstellung zu hören. Die lebt überhaupt vom akkurat „durchkomponierten“ Dialog von Artefakten der Schwaenschen Biographie, Manuskripten des Komponisten, Drucken seiner Werke und diversen analogen Medien mit einer vielfältigen Auswahl seiner Kompositionen.

Kurt Schwaen schöpfte souverän aus dem Fundus von 500 Jahren europäischer Musikgeschichte und schuf im Endergebnis ein dennoch sehr eigenständiges Werk. Auch wenn dessen Schwerpunkt auf einer sehr präzise gearbeiteten, oft mit spannenden Klangkontrasten spielenden Kammermusik liegt – die Ausstellung macht auf eine erstaunliche Gattungsvielfalt aufmerksam. Film- und Theatermusiken (für Brecht vertonte er 1955/56 das Lehrstück „Die Horatier und die Kuriatier“), Chor- und Orchesterkompositionen werden in Auswahl vorgestellt und machen Lust auf mehr. Dass Schwaen immer wieder bei den Polit-Bürokraten aneckte, wird nicht verschwiegen. Seine Musik zu Günter Kunerts „Fetzers Flucht“ (1959) wurde als „bedrohliche Fehlleistung“ eingestuft.

Große Freude hat mir der Raum gemacht, der Schwaens Arbeiten für das Kindermusiktheater präsentiert. Im Zentrum die Dekorationen zu „Paukenemil und Trompete“ (1973/75/78). Die Kantate „König Midas“ (1958) – auch hier stammt der Text von Kunert – findet Raum und natürlich die große Kinderoper „Pinocchios Abenteuer“ (1969/70) nach Carlo Collodi. Gerade in den Arbeiten für Kinder wird der bewusste Schwaensche Verzicht auf die großen Klang-Tsunamis, mit denen uns andere belästigen, auf sympathische Weise deutlich: „Was du nicht mit drei Tönen sagst, das sagst du auch nicht mit hundert“, meinte der Komponist einmal.

Es ist sehr zu hoffen, dass diese Schau ein Klingeln mit anschließendem Nachdenken in den Ohren der Kommunal- und Landespolitiker dieser Stadt auslöst.

„Wer möchte nicht im Leben bleiben … Der Komponist Kurt Schwaen“, Bezirksmuseum Marzahn-Hellersdorf, Alt-Marzahn 51, 12685 Berlin, Montag bis Freitag 10 bis 18 Uhr; bis 22. April 2022.

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Mein Lieblingsbild in der Jutta-Mirtschin-Ausstellung, die derzeit in der Lichtenberger „Galerie 100“ zu sehen ist, heißt „Balance“ (2020). Viele werden das Motiv kennen. Es findet sich auf dem Cover von Gerhard Schönes LP „Lieder aus dem Kinderland“ von 1982. Im Zentrum des Bildes, vor einem wilden, tiefroten Grund, im Zentrum von Furcht und Aufregung sozusagen, ist eine zierliche Artistin auf dickem Seil zu sehen. Sie steht nur auf einer Zehenspitze, in beiden Händen ein Balancierstab. Die Fragilität des Persönchens wird unterstrichen durch ein zartes Diadem. Keine Angst! Die stürzt nicht ab. Die ist stark.

Obwohl … mein Lieblingsbild ist „Im Gespräch“ (2015). Vor blauem Grund – die pastösen Hintergründe sind ein Markenzeichen der Künstlerin – eine junge Frau, ganz in Grün. Die roten Lippen ebenso wie die Augen geschlossen. Auf dem Schoß hält sie eine Katze, man hört förmlich das Schnurren. Im Gespräch? Mit wem spricht die Dargestellte? Mit der Katze?

Ein ähnliches Sujet „Ein Augenblick“ (2021). Nur ohne Katze. Die Porträtierte trägt dafür einen luftigen Haarschleier aus silbernen Fäden, vor sich eine überaus zarte Blume in einem Sektkelch. Auch hier Fragilität in Motiv und Pinselstrich. Zartheit, Geheimnisvolles. „Es sind sensible, zauberhafte Wesen, die anrühren, uns aber trotz alledem selbstbewusst entgegentreten“, wird Barbara Martin vom Kunstmuseum Cottbus in der Ausstellung zitiert. Mirtschin malt bevorzugt überaus zierliche Frauen, Kinder, oft als Harlekin verkleidet, Artisten überhaupt.

Nein … „Gelber Clown“ (1983) ist mein Lieblingsbild. Ach, Unsinn. Von Bild zu Bild taucht man ein in eine neue Zauberwelt. Die Bilder der Künstlerin sind gemalte Poesie. Ab und zu sieht man Rand eine Katze. Eine stille Hommage an Werner Klemke, bei dem sie Meisterschülerin war? Da schimmert Wesensverwandtschaft auf – und die Vorliebe zum Buch. Jutta Mirtschin hat wunderbare Bücher gestaltet. In der Ausstellung sind einige zu sehen: die Fischpredigt des Heiligen Franziskus für einen Verlag in Padua, Günter Kunerts „Josephine im Dunkeln“, sorbische Märchen … In Berlin ist so etwas seltener zu sehen, die Stadt bevorzugt das Bedeutende, das mit starkem Schritt allzu oft über die Poesie hinwegtrampelt. Aber man muss sich beeilen. Die Ausstellung läuft nur noch bis zum 6. Februar.

Eine ganze Vitrine ist übrigens einer Aphorismen-Buch-Reihe des Steffen-Verlages gewidmet. Marie von Ebner-Eschenbach brannte sich mir ein: „Wo wäre die Macht der Frauen, wenn die Eitelkeit der Männer nicht wäre?“

Jutta Mirtschin: Malerei. Grafik, Galerie 100, Konrad-Wolf-Straße 99, 13055 Berlin, Dienstag bis Freitag 10 bis 18 Uhr, sonntags 14 bis 18 Uhr; noch bis 6. Februar 2022.

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Ebner-Eschenbachs Satz beschäftigte mich auf der Reise von Hohenschönhausen in den Berliner Westen nach Charlottenburg. Der missliche Zustand meines nächsten Ziels hat mit männlicher (Politiker-)Eitelkeit zu tun. In der Knesebeckstraße hat das Berliner bauhaus-archiv ein zeitweiliges Domizil gefunden. Das weltbedeutende Kunstmuseum sitzt seit 2018 auf den Kisten der mit rund einer Million Objekten größten Bauhaus-Sammlung. Das Ringen um eine überfällige Erweiterung und Modernisierung des Stammhauses am Ufer des Landwehrkanals – vom 1979er Anbeginn mit architektonischen Fehlgriffen belastet – dauerte gut anderthalb Jahrzehnte. Die Ignoranz des Berliner Senates ließ sich erst überwinden, als „der Bund“ 2013 (!) mit einer hälftigen Mitfinanzierungszusage ins Boot genommen werden konnte. Der war clever und „deckelte“ seine Zusage. Wie in Berlin üblich entwickeln sich die „Mehrkosten“ und eine Bauverzögerung folgt der anderen. Staatsoper im Kleinen. Aber immerhin wird jetzt gebaut. Weimar und Dessau hingegen eröffneten ihre auch architektonisch bedeutenden neuen Bauhaus-Museen im Jubiläumsjahr 2019, Berlin möglicherweise erst 2024. Solange wollte aber die Chefin des Hauses, Annemarie Jaeggi, nicht warten. Sie versucht seit Jahren mit großer Beharrlichkeit, ihr Museum im Bewusstsein der Stadt wachzuhalten. Jetzt ist im Haus an der Knesebeck-Straße die Installation „bauhaus infinity archive“ zugänglich, die es ermöglicht, sich mit 15.699 Fotos, Dokumenten und museumsinternen Arbeitsbildern auseinanderzusetzen. Dazu werden kuratierte „stories“ präsentiert. Das ist spannend. Dahinter steckt eine ungeheure Arbeit. Bauhaus-Freunden sei das wärmstens empfohlen! Man muss aber Zeit und Geduld mitbringen. Im Februar will ich dennoch wieder ein paar Tage in Dessau sein … Da sind die Originale zugänglich.

the temporary bauhaus archiv, Knesebeckstraße 1–12, 10623 Berlin, täglich, außer sonntags, 10 bis 18 Uhr.