Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 19. Januar 2009 , Heft 2

In Moskau

von Gerd Kaiser

Auf dem Gelände des Nowodewitschi-Klosters und des Donskoj-Klosters erheben sich nicht nur, umgeben von mittelalterlichen hohen Wehrmauern, prächtige Kirchen. Hier, auf den Friedhöfen dieser Klöster, sind ungezählte Frauen und Männer bestattet, die in der Kultur- und Geistesgeschichte, in den Wissenschaften und in der Politik Rußlands oder der Sowjetunion eine Rolle spielten.

Die einen wurden hier von ihren Nächsten zur letzten Ruhe gebettet, die anderen namenlos verscharrt, in Massengräbern des Großen Terrors. Das »Gemeinschaftsgrab Nr. 1: Nicht abgeholte sterbliche Überreste 1930 bis einschließlich 1942« befindet sich auf dem Donskoje-Friedhof. Ein kleines Täfelchen unter vielen anderen erinnert an Michail Tuchatschewski, einen von 39761 führenden Militärs der Roten Armee, einer der drei von fünf ihrer Marschälle, die allein zwischen Mai 1937 und September 1938 erschossen wurden. Besonders 1941/42, nach dem Überfall der Wehrmacht, wären ihre Kenntnisse und ihr Können für eine frühe Gegenoffensive lebensnotwendig gewesen. Ihre Asche wurde in Massengräber geschüttet, die mußten, der »Andrang« war große, maschinell ausgehoben werden. In diesem Gemeinschaftsgrab liegt auch die Handvoll Asche Isaak Babels. Dieses Denkmal »für schuldlos zu Tode gequälte und erschossene Opfer der politischen Verfolgungen« wurde im letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts angelegt.

Auf dem Donskoje-Friedhof ist auch Rudolf Abel bestattet worden. Sein eigentlicher Familienname war Fischer. Er wurde als sowjetischer Spion in den USA verurteilt, am 10. Februar 1962 auf der Glienicker Brücke zwischen Berlin und Potsdam gegen den amerikanischen Spion Francis Powers ausgetauscht. Abel starb in Frieden und in dem Land, von dem er sich hatte auf einen gefahrvollen Weg schicken lassen. Hier liegen auch die sterblichen Überreste des deutschen Kommunisten Wilhelm Florin, der 1944 in der Emigration in Moskau eines natürlichen Todes starb.

Die weitläufige Nekropolis birgt auch Erinnerungsstätten an Iwan Turgenjews Mutter, Leo Tolstojs Großmutter oder das frische Grabmal des erst jüngst verstorbenen Alexander Solshenizyn, dem nicht nur die Darstellung »Ein Tag im Leben des Iwan Denisowitsch«, sondern auch die erste umfassende Untersuchung des Lagersystems der Hauptverwaltung Lager (GULag) zu verdanken ist. Sein frischer Grabhügel ist von hohen Blumenhügeln verdeckt.

Auf dem ungleich größeren und unübersichtlicheren Nowodewitschi-Friedhof verdient sich eine resolute Frau durch Führungen ein Zubrot zu ihrer bescheidenen Rente. Ihre Art erinnert an jene Berliner Knaben aus Hohenschöngrünkohl oder aus der Spandauer Vorstadt, die aus dem Gang der Geschichte ein Gewerbe gemacht haben. Die Moskauer Besserwisserin (Chruschtschow = der, der mit dem Schuh in der UNO-Vollversammlung auf den Tisch geklopft hat; Gromyko = der »Mister Njet« in der UNO et cetera) weiß wenig, aber davon viel. Durch gezielte Fragen ist sie leicht zu stoppen, etwa vor dem sinnreichen Denkmal für Chruschtschow. Geschaffen hat es im Auftrag der Familie der Künstler Neiswestnyj. Ihm hatte der bekannte Kunstkritiker Nikita Chruschtschow, Jahrzehnte zuvor, der kühnen Formsprache des Künstlers wegen – die auch dem Grabmal für den einstigen Kunstkritiker wesenseigen ist – auf einer Ausstellung in der Manege angedroht, er werde niemals wieder Material für seine Kunst erhalten (»nikogda bolsche nje polutschitje!«).

Der als geschäftstüchtiger Laiendarsteller in Politik und Tanz durch die Geschichte getaumelte Boris Jelzin liegt dagegen unter einem monströsen zeitgenössischen Kitschhügel, der seinesgleichen vergebens auf dem weitläufigen Gelände sucht. Zu Jelzin paßt er.

Gebührenden Abstand zu Jelzin halten Rußlands große Geister des 19. und 20. Jahrhunderts, von Anton Tschechow und Nikolai Gogol bis Michail Bulgakow und Ilja Ehrenburg, von Fjodor Schaljapin bis Sergej Prokofjew und Alfred Schnittke, Nikolai Rubinstein, David Oistrach, Swjatoslaw Richter, vom Maler Isaak Lewitan und seinem Namensvetter, dem Rundfunksprecher, dessen Stimme im Großen Vaterländischen, jedem Bürger des Sowjetlands vertraut war, vom Regisseur Sergej Eisenstein bis zu den Physikern Lew Landau und Wladimir Weksler, um nur wenige Namen der Unsterblichen zu nennen, deren sterbliche Überreste hier beigesetzt wurden.

Ihre Wiederauferstehung erfahren in den Moskauer Museen jahrzehntelang in die »Sperrbestände« verbannten Kunstwerke von Malern und Bildhauern des 19. und des 20. Jahrhunderts. Wechselnder »Sünden« als Kosmopoliten oder Konstruktivisten geziehen, wurden viele ihrer Werke oder auch das gesamte Werk nicht gezeigt. Sie standen jahrelang in den Giftschränken.

Die Museen und besonders jene Ausstellungen, in denen man wieder auferstandenen Kunstwerken begegnen kann, sieht der Kunstliebhaber dankbar. Sie sind gut besucht. Von Moskauern wie von Gästen aus aller Herren Länder. In der Galerie für die Kunst Europas und Amerikas im 19. und 20. Jahrhundert begegneten wir vielfältigen Zeugnissen malerischer und bildhauerischer Hochkultur, darunter Werken von Marc Chagall, Wassili Kandinsky, Hans Arp, Ernst Neuschul und Hans Grundig, von letzterem Bilder, die er nach Faschismus und Widerstand in den ersten Nachkriegsjahren in Dresden gemalt hat. Andere Säle sind Künstlern beider Amerika gewidmet, Diego Rivera, Rockwell Kent …, und den Werken Renato Guttusos, Pablo Picassos sowie Jules Fernand Legers. Die leisen Gespräche der Kunstliebhaber werden an jenem stillen Sonntagmorgen, als wir das Museum besuchen, in Russisch und Französisch, Amerikanisch und Japanisch geführt.

Die Galerie, deren Schätze größtenteils auf Privatsammlungen russischer Kunstliebhaber zurückgehen, öffnete 2006 ihre Tore. Sie gehört zu einem mehrteiligen Museumskomplex an der Wolchonka mit Puschkin-Museum und dem Zentrum für ästhetische Erziehung von Kindern und Jugendlichen. Moskau ist eine Reise wert! Ein Museumsbesuch kostet »umgerubelt« 2 (in Worten: zwei) Euro.

Von den Museen und Friedhöfen, Gedächtnis der Welt- und der Nationalgeschichte, zur Petrowka 16 und zur unweit gelegenen Bolschaja Dimitrowka 15. Mit der Petrowka verbindet sich für alteingesessene Moskauer der Sitz der Moskauer Kripo. Dort befindet sich jetzt ein Museum des GULags. Es hat sich einem unerfüllbaren Anliegen verschrieben: in einem Hof und auf zwei Wohnhausetagen den Gesamtkomplex der millionenfachen Verfolgung und der Funktionen des damit verbundenen Lagersystems anschaulich zu dokumentieren. Der Hof mit nachgebautem Wachturm und angedeuteten Stacheldraht-Einzäunungen tendiert zu hilflosem Kitsch, die Fotodokumentation von Häftlingsporträts ist beeindruckend.

Das Museum in der Petrowka wird von der Stadtverwaltung unterhalten, seine Ausstellung besteht vor allem aus Hinterlassenschaften von Häftlingen und einigen Zeugnissen künstlerischer Verarbeitung ihrer Lagererlebnisse.

Einen kurzen Fußweg von hier befindet sich in der Bolschaja Dimitrowka das vormalige Komintern-Archiv, heute Staatsarchiv für Soziale und Politische Geschichte Rußlands (RGASPI). In dieser Büchse der Pandora wirken hilfsbereite Mitarbeiterinnen. Das »Mutterhaus« dieser Institution, das vormalige Institut für Marxismus-Leninismus, zwischendurch Institut für Marx, Engels, Lenin, Stalin, liegt quasi um die Ecke, im Rücken des RGASPI.

Dort sitzt, unweit von Fürst Jurij Dolgorukij hoch zu Roß und wenige Schritte von der Gorki-Straße, die heute wieder Twerskaja heißt, ein nachdenklicher Lenin, den kahlen Kopf in die Hand gestützt. Es ist gut, daß er sich nicht umdrehen kann, denn zwanzig Meter hinter seinem Rücken, im ehemaligen Haupteingang zum IML, macht sich über die gesamte Front des Gebäudes, eines eindrucksvollen Baus der frühen Sowjetmoderne, eine Bierkneipe der Firma »Tuborg« breit.