Vor 165 Jahren, im Mai 1855, bestiegen Robert und Adolph Schlagintweit mit Unterstützung Einheimischer das im Himalaya-Gebiet Indiens gelegene Nanda-Devi-Gebirgsmassiv. Die bayerischen Bergsteigerbrüder, zu denen noch Hermann als ältester der drei gehörte, weilten von 1854 bis 1858 auf dem Subkontinent. Gemeinsam oder getrennt erforschten sie große Bergregionen vom Himalaya über Kaschmir bis zum Karakorum. Ihre Expedition wurde vom greisen Alexander von Humboldt unterstützt und mit viel Sympathie begleitet.
Neben den wissenschaftlichen Ergebnissen sind es vor allem ihre bergsteigerischen Leistungen, die bis heute großen Respekt verlangen. So erreichten sie am Kamat im Gharwal Himal eine Höhe von 6785 Metern, was für viele Jahrzehnte den weltweit geltenden Höhenrekord darstellte. Der Kamat ist mit 7750 Metern der dritthöchste, der Nanda Devi mit 7816 Metern der zweithöchste Berg des heutigen Indien.
Die Region um diese beiden Bergriesen bildet mit ihren vorgelagerten Gebirgsketten den indischen Unionsstaat Uttarakhand. Westlich von Nepal gelegen, ist er nur 53.500 Quadratkilometer groß und hat etwa 10 Millionen Einwohner. Dort befinden sich noch über 1000 Gletscher. Seinen Beinamen „Land der Götter“ erhielt das Gebiet, weil der für die Hindus heilige Fluss Ganges mit seinen vielen kleinen Nebenflüssen seinen Ursprung in den Gletschern des Nanda Devi hat. In der Hindu-Mythologie ist das der Sitz der Göttin Nanda. Den Hindu-Göttern zu Ehren befinden sich an den Flussläufen unzählige Pilgerstätten und Tempel. Weltweit bekannt sind Rishikesh – wo einst die Beatles meditierten – und Hardwar, während Kedarnath und Badrinath hoch oben im Gebirge nur für einige Monate des Jahres zugänglich sind.
Im Juni 2013 spielte sich im Gebiet um Kedarnath eine riesige Tragödie ab. Nach tagelangen schweren Regenfällen gab es Sturzfluten und Bergrutsche, die über 5700 Opfer forderten – Einwohner, Pilger und Touristen. In den engen Tälern waren mehr als 300.000 Menschen von der Außenwelt abgeschnitten.
Katastrophen ähnlicher Art, wenn auch nicht so schwerwiegend, gibt es seit jeher im Himalaya. Doch ihre Häufigkeit und der Grad der Verheerung nehmen zu. Das zeigt auch die Schlamm-, Eis- und Gerölllawine vom 7. Februar 2021, die an den kleinen Zuflüssen des Ganges – den Rishiganga und den Dhauliganga – ihre Verwüstungen anrichtete. Noch ist nicht klar, was diese Katastrophe auslöste – Gletscherabbruch oder rutschende Eis- und Schneefelder. Doch die Ursachen dafür sind vom Menschen gemacht. An den Gebirgsflüssen sind in den letzten Jahren viele Wasserkraftwerke entstanden, weitere befinden sich im Bau. Zwei von ihnen, am oberen Lauf eines der Zuflüsse, wurden durch die Gewalt der Schlamm- und Eismassen einfach weggerissen. Und mit ihnen die Menschen, die dort lebten und arbeiteten.
Umweltschützer und Wissenschaftler erheben schwere Vorwürfe wegen der ungezügelten Bautätigkeit im Himalaya. Seit jeher ist bekannt, dass diese Region äußerst anfällig für Naturgewalten wie Erdbeben, schwere Regen- und Schneefälle, Lawinen und Erdrutsche ist. Staudämme zu errichten, mehrspurige Straßen sowie Tunnel zu bauen und dafür Sprengungen vorzunehmen, sind schwere Eingriffe in die empfindliche Natur. Katastrophen sind programmiert. Und das alles vor dem Hintergrund des Klimawandels, über dessen Auswirkungen für das Himalaya-Gebiet Forschungsergebnisse und Prognosen vorliegen.
Doch bisher werden alle Warnungen in den Wind geschlagen. Offizielle Gutachten empfahlen, in den engen Tälern keine Bauprojekte mehr auszuführen. Doch einem Bericht der Times of India zufolge wurden im Unionsstaat Uttarakhand schon 75 Wasserkraftwerke gebaut, insgesamt sollen es 171 Anlagen mit einer Gesamtleistung von 17.000 Megawatt werden. Weiter heißt es, dass in 28 Schluchten Staudämme errichtet werden, im Schnitt wäre das alle 32 Kilometer Flusslauf ein Damm.
Die ehrgeizigen Regierungspläne haben natürlich auch Befürworter. Saubere Energie aus Wasserkraft ersetze hier den Bau von 15 bis 20 Großkraftwerken auf fossiler oder nuklearer Brennstoffbasis, heißt es. Außerdem entstünden viele Arbeitsplätze sowie eine touristische Infrastruktur. Umweltgutachten werden als Hindernis betrachtet, man setzt sich oft über sie hinweg, berichten Medien.
1988 wurde das Gebiet um den Nanda Devi zum Weltnaturerbe der UNESCO erklärt, mehr als 2200 Quadratkilometer wurden unter Schutz gestellt. Mit der vorgelagerten Pufferzone sind es sogar über 5000 Quadratkilometer. Bergsteigen und Tourismus wurden nahezu eingestellt. Doch genau dort ereignete sich bereits 1965 eine Katastrophe mit Langzeitwirkungen. Die CIA wollte in einer Geheimaktion auf dem Gipfel des Nanda Devi eine nuklear gespeiste Apparatur installieren, mit der man chinesische Atomtests in der fernen Wüste Gobi verfolgen konnte. Mit großem Aufwand versuchten Bergsteiger und Träger aus der Region, einen thermonuklearen Generator auf den Gipfel zu bringen, doch der Aufstieg musste wegen schlechten Wetters abgebrochen werden. Das Gerät wurde 600 Meter unterhalb des Gipfels gelagert, aber es wurde nie wieder gefunden. Ein Felsabbruch hatte es mitgerissen und begraben. Die Batterie soll ein bis zwei Kilogramm Plutonium enthalten. Staatliche Stellen erklärten das zwar für unbedenklich, Bergbewohner und Umweltschützer sorgen sich jedoch bis heute, dass austretende Radioaktivität den Gletscher und damit das Gangeswasser kontaminieren könnte.
In den Mythen der Bergbewohner lebt der Glaube fort, dass die Götter die Taten der Menschen in ihrer Bergwelt nicht ungestraft lassen. Adolf Schlagintweit musste bei der Überquerung des Pindari-Gletschers die Furcht seiner einheimischen Träger und Bergführer erleben. Nur mit Geld und Zwang gelang es dem Trupp, in die Nähe des Berggipfels zu gelangen. Drei Ziegen mussten geopfert werden, um die Götter günstig zu stimmen. Die Höhenkrankheit, die alle erfasste, schrieben sie deren Wirken zu.
Heute werden keine Ziegen mehr geopfert, im Gegenteil, der aufgeklärte Mensch verändert die Natur und versucht, sie seinen Zwecken zu unterwerfen. Mit schlimmen Folgen, wie es das Geschehen im Himalaya zeigt. Die Natur – früher sagte man die Götter – wehrt sich. Dabei könnten die Dinge so einfach liegen: Statt Ziegen zu opfern bräuchte man nur auf Geologen und Wissenschaftler zu hören und Verständnis für die in der Bergwelt herrschenden Gesetze aufbringen. Der Nanda Devi, die „Göttin der Freude“, würde sich den Menschen gegenüber gewiss wohlwollend zeigen.
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Zur Expedition der Brüder Schlagintweit, einschließlich der Erforschung des Nanda-Devi-Gebietes, gibt es zwei aktuelle Publikationen. Der Österreicher Rudi Palla, selbst Bergsteiger, hält in einem sachlichen Bericht „In Schnee und Eis“ die Lebensleistungen der drei Brüder fest. Eine große Zahl interessanter Fakten, in die damalige Zeit gestellt, verbindet er mit einer Einschätzung der nicht unumstrittenen Tätigkeit der Brüder.
Ganz anderer Art ist der Roman von Christopher Kloeble „Das Museum der Welt“. Er umfasst nur die Expedition der Schlagintweits in Indien. Hauptfigur ist der Waisenjunge Bartholomäus – eine erfundene Person –, der als Dolmetscher dient. Aus dessen Sicht wird kenntnisreich und einfühlsam das oft widersprüchliche Wirken der Brüder ebenso wie das damalige Leben in Indien unter kolonialen Verhältnissen geschildert. Das humanistische Grundanliegen des in Neu-Delhi lebenden Autors wird sehr deutlich.
Rudi Pallas: In Schnee und Eis. Die Himalaya-Expedition der Brüder Schlagintweit. Verlag Galiani, Berlin 2019, 192 Seiten, 20,00 Euro.
Christopher Kloeble: Das Museum der Welt. dtv Verlagsgesellschaft, München 2020, 526 Seiten, 24,00 Euro.
Schlagwörter: Christopher Kloeble, Edgar Benkwitz, Himalaya, Indien, Katastrophen, Naturschutz, Rudi Palla, Schlagintweit