24. Jahrgang | Nummer 5 | 1. März 2021

Kurt Hiller und Hamburg

von Hermann-Peter Eberlein

Kurt Hiller – einst Weltbühne-Autor, von den Nazis als Jude, Linksintellektueller und Homosexueller verfolgt, inhaftiert und gefoltert – gehört zu der verschwindenden Minderheit politischer Exilanten, die nach dem Krieg wieder in ihre alte Heimat zurückkehrten. Hiller tat dies 1955, wählte allerdings nicht das nunmehr geteilte Berlin, sondern Hamburg, wo er bald mit studentischen Kreisen in Verbindung kam und vor allem in den frühen Sechzigerjahren – der „Inkubationszeit der Achtundsechziger-Bewegung“ – noch einmal Gehör fand: als Zeitzeuge und durch Vorträge, als Vorsitzender des von ihm mitbegründeten „Neusozialistischen Bundes“ und durch die Mitarbeit an der von Wolfgang Beutin herausgegebenen Zeitschrift Lynx. Sein 80. Geburtstag am 17. August 1965 wurde groß gefeiert: der Kultursenator gratulierte, die Staats- und Universitätsbibliothek veranstaltete eine Ausstellung, der NDR berichtete. Zugleich aber markierte dieses Datum den Anfang vom Ende einer Zeit, in der Hiller für die jungen kritischen Intellektuellen der Hansestadt so etwas wie eine Schutzgottheit gewesen war. Nach 1968 fand Hiller keinen Widerhall mehr; als er 1972 starb, hatte sich die Erinnerung an ihn überlebt.

In Zusammenarbeit mit der Arbeitsstelle für Universitätsgeschichte an der Universität Hamburg hat die Kurt Hiller Gesellschaft Ende Juni 2019 eine Tagung zu Hillers Hamburger Jahren veranstaltet, deren Beiträge – samt ergänzenden Dokumenten – nun in einem schönen Sammelband vorliegen. Der Fokus liegt auf dem Thema Öffentlichkeit: Wo waren Hillers Wirkungsräume? Welche Resonanz erfuhr er, welche eben nicht? Welche politischen Themen besetzte er? Warum blieb sein Einfluss auf eine junge intellektuelle Subkultur beschränkt? Diese Fragen werden aus den unterschiedlichsten Perspektiven beleuchtet: Harald Lützenkirchen untersucht Hillers Alltag als Schriftsteller (auch das große Hobby gehört dazu, die Philatelie, die nur vordergründig so gar nicht zum Bild eines linken Autors zu passen scheint), Rainer Nikolaysen beleuchtet Hillers fragwürdigen Urteile über Hamburger Professoren wie etwa den ersten Nachkriegs-Rektor der dortigen Universität Emil Wolff, der Hiller besonders verhasst war. Selbstverständlich ist der „Neusozialistische Bund“ Thema, dessen Gründungsmanifest faksimiliert wiedergegeben wird. Persönliche Erlebnisse und Interviews verleihen dem Band Authentizität. Besonderen Wert haben die Dokumentationen: So hat Rolf von Bockel eine kommentierte Bibliographie aller 106 Beiträge Hillers im Lynx zusammengestellt und Lützenkirchen die offiziellen Schriften des „Neusozialistischen Bundes“ – 28 an der Zahl – zusammengetragen. Die Mitteilung des Vorstandes des Bundes von Anfang Dezember 1967, welche fünf Ziele – darunter die Verhinderung der Notstandsgesetze und die Abschaffung der strafrechtlichen Bestimmungen wegen Landesverrats, Gotteslästerung, Schwangerschaftsabbruch und Homosexualität – benennt, ist faksimiliert abgedruckt.

Nicht nur im Buch selbst, sondern auch als Klappentext ist ein Text wiedergegeben, der Hillers Ethos vielleicht am schönsten zusammenfasst: seine „Zehn Thesen zur Wiederherstellung eines Deutschen Universitätslebens“ vom Juli 1945. Sie sind heute genauso aktuell wie damals und seien darum zum Abschluss zumindest auszugsweise zitiert:

  • „1. Die deutschen Universitäten haben zwar Fachwissenschaftler auszubilden, aber sie sollen sie im Sinne einer Gesinnung ausbilden. Welcher? Der humanistischen! Humanismus heißt jene ethische Quintessenz, die der Religion, dem Liberalismus und dem sozialen Revolutionarismus gemeinsam ist.“
  • „3. Jeder Student hat, während seiner gesamten Studienzeit, jeweils neben seinen Fach-Vorlesungen mindestens zwei allgemeine, dem humanistischen Gedanken explicite dienende Kollegs zu belegen, mögen sie unter die theologische, die philosophische, die soziologische, die literarhistorische oder welche Rubrik sonst immer fallen.“
  • „6. Die Auslese der jungen Menschen zum Studium soll nicht nach dem Geldbeutel oder der gesellschaftlichen Stellung des Vaters, sondern nach dem Prinzip der Qualität erfolgen“.

Was davon ist heute, 75 Jahre danach, verwirklicht?

R. Lütgemeier-Davin / H. Lützenkirchen / R. von Bockel (Hrsg.): Die Öffentlichkeit des Exilrückkehrers: Kurt Hiller und die Universität Hamburg, von Bockel Verlag, Neumünster 2020, 360 Seiten, Euro 25,00.