24. Jahrgang | Nummer 3 | 1. Februar 2021

Von Münchens Straßen aufgelesen

von Jonas Bokelmann

Wenn die Aufwertung von Wohnraum oder die Inwertsetzung ganzer Städte Thema in den Medien ist, geht es dabei zumeist um die Schicksale von Bildungsbürgern und jungen Kreativen. So kritikwürdig es auch ist, wenn Kabarettbühnen schließen, es kaum mehr Proberäume gibt und sich Menschen immer mehr auf die Hinterbeine stellen müssen, um steigenden Mieten für ihre Wohnungen zu schultern, so problematisch ist ein solcher Fokus doch, wenn er exklusiv ist und darüber andere Personen aus dem Blick geraten: Obdachlose, die jede private Rückzugsmöglichkeit schon längst verloren haben. Ihre Situation unter den genannten Bedingungen nimmt Markus Ostermair in seinem literarischen Debüt „Der Sandler“ in den Blick.

Hauptfigur ist Karl Maurer, der schon seit einigen Jahren in München auf der Straße lebt. Seine wenigen Schlaf- und Stellplätze liegen weit über das Stadtgebiet verstreut, sodass jeder neue Tag für ihn im Grunde eine weitere weite Strecke darstellt. Das zum Leben Notwendige muss er im Vorbeigehen beschaffen und stets späht Karl nach Störungen und Hindernissen aus, die seinen Weg erschweren könnten. Dies ist daher kein Text über einen gemütlichen Clochard, sondern über einen Menschen, der im Grunde immer unter Spannung steht, ständig auf der Hut und immer auf der Suche nach kleinsten Gelegenheiten für Erleichterung ist.

Besondere Anlaufpunkte, die Schlafplatz, Restaurant, Informationsbörse und Warenlager in Einem sind, prägen Karls Welt und nicht nur seine: Orte wie die „Teestube“ oder die Bahnhofsmission sind überlaufen, und der Roman erweckt den Eindruck eines dort vorherrschenden, mal unterschwelligen mal offenen Hauens und Stechens um die besten Plätze beziehungsweise Stücke. Eine mehr als wacklige Basis, die darüber hinaus, was der Text anhand der starken Nebenfigur zeigt, Teil des (Wieder-)Verwertungszusammenhangs ist: Individuelle Bedürfnisse, etwa nach In-Ruhe-gelassen-werden, müssen zurückstehen, denn aus einem Menschen soll bis morgen wieder ein Klient und aus diesem bis übermorgen wieder ein freier Lohnarbeiter werden. Bemerkenswerterweise spart der Text nicht aus, wie sehr ein solches Prozedere auch auf der anderen Seite des Beratungstisches zu Frust und Verzweiflung führt.

Überhaupt ist „Der Sandler“ ein erfreulich vielschichtiges Werk. Es geht Ostermair nicht darum vom erhabenen Standpunkt des philanthropischen Sozialreformers, in naturalistisch-voyeuristischer Manier schlimme Dinge zu beschreiben, die – Gottlob! – nur eine Minderheit und nie einen selbst betreffen. Stattdessen zeigt er die „Gewalt der Straße“ in ihrer Wechselwirkung mit den aggressiven Entladungen auf der Sonnenseite: Die Jugendlichen, die abends die Markteinführung neuer Sneaker zelebrieren, dafür Karl aus einem Ladeneingang vertreiben und nachts noch weiter einen draufmachen, indem sie auf einen anderen Obdachlosen urinieren, werden schließlich Opfer von Kurt, der der lebendige Ausdruck einer gewaltförmigen Gesellschaft im Roman ist. Man kann sich weiter vorstellen, dass sie auf Grund der „Rückschläge“, die sie durch ihn erhalten, im späteren Leben zu jenen gehören werden, die bauliche Maßnahmen und die Härte des Rechtstaats gegen das „Obdachlosenunwesen“ fordern. Auch von diesen Gehässigkeiten erzählt der Roman.

Daneben wird das Konzept der Privatwohnung als Rückzugsraum und sicherer Hafen ganz generell in Frage gestellt: Ab dem Moment, da Karl diesen Traum durch reines Glück und für kaum länger als einen Tag verwirklichen kann, mutiert er auch schon zum Albtraum quälender Verlustängste. Wenn in dem Haus, in das Karl einzieht, überlaut Türen geschlagen werden und verschüchtert in die Dunkelheit der Treppe hinabgerufen wird, macht der Roman die stete Furcht auch auf Seiten der gut situierten Bewohner (vor Einbrechern, Betrügern und sonstigen sinistren Kräften) nachgerade fühlbar. Auch für Karl wird die neue Wohnung, die ihm sein Freund Lenz vererbt hat und nun Ausgangspunkt für einen Neuanfang werden soll, zur Mausefalle, die die Schatten der Vergangenheit wieder zum Leben erweckt und die destruktiven Kräfte allgemeiner Konkurrenz auf den Plan ruft: Kurt, der nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis feststellen muss, dass draußen nicht einmal mehr eine Couch für ihn frei ist, meldet Bedarf an und ist bereit, ihn mit Gewalt durchzusetzen.

Es ist dies eine deprimierende Lehre von „Der Sandler“: Obdachlose mögen die verschiedensten Hintergründe habe, ihre Ängste und Sorgen gleichen sich vielfach. Dennoch finden sie in dem Roman nicht zusammen. Jeder ist mit sich beschäftigt, Solidarität ist rar und kollektive Gegenwehr gibt es schon gar nicht. Dass es auch anders gehen könnte, zeigen die Schriften, die Karl außer der Wohnung auch noch von Lenz vermacht bekommt. Immer wieder taucht dort der „Maschinengott“ als Verkörperung des so blasphemischen wie naheliegenden Gedankens auf, vorhandene gesellschaftliche Ressourcen, wie etwa Wohnungsbestände, könnten mit den zu Verfügung stehenden informationstechnischen Mitteln ohne Ansehen von Rang und Namen gleich verteilt werden und nicht der Anarchie des Marktes und der Macht der baren Zahlung unterliegen.

Der, wie es im Roman heißt, „Zettelwust von Lenz“, ist dabei ein Erbe nicht nur für Karl, sonder auch für die hoffentlich zahlreichen Leserinnen und Leser des Buches. Als eingeschobene (fingierte) Dokumente stehen sie auch außerhalb der Romanhandlung und schreien danach, aufgegriffen, interpretiert und wieder in Beziehungen zu gesetzt werden. So wie Lenz’ einsames Krepieren in dem Text eine vertane Chance auf Rebellion darstellt, so sehr macht sein Weiterleben in Form dieser Zettel Hoffnung auf ihre generelle Möglichkeit. Es steht zu hoffen, dass Viele sich einen Reim auf Lenz’ Überlegen machen und so dem Stimmlosen doch noch eine Stimme geben.

Markus Ostermair: Der Sandler, Osburg Verlag, Hamburg 2020, 371 Seiten, 20,00 Euro.