Die deutschen Medien waren sich einig, vom ZDF über den Focus, Die Zeit, den Spiegel, die FAZ bis zum neuen deutschland: in Washington war „der Mob“ in das Parlamentsgebäude gestürmt. Nun ist „der Mob“ immer eine Frage der Perspektive. Aus der Sicht des Ancien Régime waren die Erstürmer der Bastille in Paris 1789 Mob, aus der Sicht des alten Regimes und der „Provisorischen Regierung“ auch der Sturm auf das Winterpalais 1917 in Petersburg. Ebenso die Akteure der Bostoner Tea Party 1773, die verkleidet den Tee der East India Company ins Meer warfen; sie waren aus Sicht der britischen Regierung – wir reden über die Zeit vor der Unabhängigkeit der USA – Mob. Unter der Perspektive der Revolution und ihrer späteren Interpretationen waren sie alle Freiheitskämpfer.
Nun wäre es gewiss völlig verfehlt, die Akteure der gewaltsamen Empörung in Washington zu solchen zu erklären. Allerdings: Nach aktuellen Umfragen ist die Mehrheit derer, die Donald Trump erneut wählten, nach wie vor der Meinung, dass ihm die Wahl „gestohlen wurde“, fast die Hälfte von ihnen hält die Proteste am 6. Januar in Washington für berechtigt. Die 74 Millionen Trump-Wähler verschwinden nicht, wenn man sie als „Mob“ denunziert. Im bürgerlichen Wahlbetrieb sind alle Wähler gleich, auch wenn sie eine übel beleumdete Partei wählen. Das war früher die PDS beziehungsweise die Linkspartei, heute ist es die AfD, ob es den anderen nun passt oder nicht.
In den deutschen, politisch korrekten Medien wird hier seit 2016 Donald Trump eingereiht. Alle – bis auf wenige querulantische Ausnahmen – freuen sich jetzt auf Joe Biden und die künftige schöne neue NATO-Solidarität. Nancy Pelosi und die Demokraten-Mehrheit im Repräsentantenhaus betreiben ein neuerliches Amtsenthebungsverfahren gegen den Noch-Präsidenten, wozu sie auch auf relevante Zustimmung im US-Senat hoffen. Er ist zwar am 20. Januar ohnehin aus dem Weißen Haus abgezogen. Aber man verspricht sich davon offenbar eine Sperre, wodurch Trump zu den Präsidentenwahlen 2024 nicht mehr antreten dürfte. Offenbar ist die Furcht vor ihm immer noch groß. Hinzu kommt, dass die Wahlsiege Bidens und der Demokraten in der Senats-Nachwahl in Georgia den Wahluntersuchungen nach tatsächlich in erheblichem Maße von jungen Aktivisten der Linken und der schwarzen Bürgerrechtsbewegung erwirkt wurden. Biden scheint nun bei seinen Personalentscheidungen symbolisch etliche Nicht-Weiße zu nominieren, aber den Linken keine ernsthaften Zugeständnisse machen zu wollen. Wenn dann bei den Zwischenwahlen 2022 und der Präsidentenwahl 2024 die Frustration entsprechend groß ist, werden diese „Wahlhelfer“ nicht mehr zur Verfügung stehen, und dann reicht gegebenenfalls die Trumpsche Wählerschaft wieder für eine andere Mehrheit.
Eine Ausnahme in der deutschen Publizistik war wieder einmal Anjana Shrivastava in der Berliner Zeitung. (Der Name stammt übrigens aus dem Sanskrit und wird von Hindu-Familien getragen. Anjana Shrivastava wurde in Großbritannien geboren, hat seit der Jugend in den USA gelebt und studiert und schreibt heute für deutsche Zeitungen.) Ihr Artikel war mit „Wilder Westen“ überschrieben und trug den Untertitel: „Die Männer, die das Kapitol stürmten, repräsentieren die unzivilisierte Seite der Vereinigten Staaten von Amerika“. Hier betont sie einen zentralen Punkt, um den die anderen Kolumnisten in Deutschland wahrscheinlich nicht einmal wissen: „Eines sollte man vor allem nicht vergessen bei der Analyse des Angriffs auf das Kapitol: Die gediegenen Hallen dieses Gebäudes sind für die USA ungefähr so repräsentativ wie der Petersburger Winterpalast für Russland. Das Kapitol mag einerseits fast eine Art Heiligtum sein, ist andererseits aber ein Randphänomen in einem traditionell eher wilden Land.“ Auf den Fotos im Kapitol sind diese Männer zu sehen, wie sie unter Bildern, auf denen die USA-Flagge weht, auf den gediegenen Polstern mit einer USA-Flagge in Händen sitzen. Wer beansprucht nun die Fahne mit welchem Recht?
In diesem Sinne erzählt Shrivastava die Geschichte des „mythischen Eisenbahnarbeiters“ im 19. Jahrhundert namens John Henry, der schwor, er könne mit seinem Hammer härter schlagen als ein Dampfhammer, damit habe er sich den ersten „Quarter“ verdient, das 25-Cent-Stück in den USA. Shrivastava wusste auch schon gleich nach den Ereignissen, dass der Mann, der in Pelosis Sessel lümmelte, auf ihrem Briefpapier einen bösen Brief geschrieben hatte und ein Kuvert als Trophäe mitgenommen hatte, Richard Barnett hieß. Der hatte, als er das Büro verließ, einen Quarter auf Pelosis Schreibtisch hinterlassen. Die Vorstellung, diese „Unzivilisierten“ seien blöd, ist offenbar falsch. Zudem waren dem „Mob“ offenbar einige Türen von innen geöffnet worden. Einer der offiziell gezählten Toten ist den Meldungen nach ein Polizist, der Suizid beging.
Claus Leggewie aus Wanne-Eickel, pensionierter Politikprofessor und Mitherausgeber der Blätter für deutsche und internationale Politik, gab wieder einmal den obersten Besserwisser des Landes. Er verurteilte jene „Kollaborateure der Republikanischen Partei“, „die sich selbst nach dem Sturm aufs Kapitol nicht gegen ihren Präsidenten, einen politischen Verbrecher und Landesverräter, gestellt haben“. Ob Trump dies ist, wird das Amtsenthebungsverfahren oder werden die Gerichte in den USA zu entscheiden haben, nicht der deutsche Professor. Der wiederum nutzte auch diese Gelegenheit, um die „rechte Gefahr“ auch in EU-Europa zu beschwören. Viktor Orbáns Fidesz in Ungarn, Matteo Salvini in Italien, die AfD in Deutschland, die PiS in Polen sowie die „Gelbwesten“ in Frankreich gehörten schärfer bekämpft. Die „Nachgiebigkeit gegenüber dem Zerstörungswerk von Fidesz und PiS“ müsse aufhören. Dort sind das die ordentlich gewählten parlamentarischen Mehrheiten, die vor dem deutschen Richterstuhl keine Gnade finden. „Eliten-Versäumnisse“, so weiter Leggewie, „legitimieren niemals den Aufstand des Mob“.
Das hat 1773, 1789 und 1917 aber stets „der Mob“ entschieden, nicht die sogenannten Eliten. Bernie Sanders, beliebter Bannerträger der US-amerikanischen Linken, sagte im Wahlkampf 2016, als er noch gegen Hillary Clinton um die Präsidentschaftskandidatur der Demokraten kämpfte, auf die Frage, was er denn tun wolle, wenn er im Weißen Haus sitze und sich einem völlig feindselig gestimmten Kongress und einem imperial ausgerichteten Staatsapparat gegenüber sehe, dann werde eine „Massenbewegung“ seiner Anhänger nach Washington marschieren. Trump, von der anderen Seite des politischen Spektrums, hat das nun versucht.
Schlagwörter: Anjana Shrivastava, Bernhard Romeike, Bernie Sanders, Donald Trump, Mob, US-Kongress