von Wladislaw Hedeler
Unter der Rubrik »Rückspiegel« konnte man am 11. Februar 2009 im Neuen Deutschland eine vor fünfzig Jahren im Blatt veröffentlichte Meldung nachlesen, die mit »25000 Mädchen ins Neuland« überschrieben war. Junge Frauen aus allen Teilen der Sowjetunion, teilte man mit, hatten sich mit dem Ersuchen an die Jugendorganisation Komsomol gewandt, ihnen eine Arbeit in den Neulandgebieten zuzuweisen, »damit sie helfen können, die Wirtschaft dieser reichen Gebiete des Landes schnell zu entwickeln«. Über die Hintergründe dieser großen Initiative teilte die Zeitung damals wie heute nichts mit.
Es war wohl ein Zufall, daß Günter Rosenfeld mit »Sklavenarbeit für Stalin«, seiner Rezension des Buches über die Geschichte des Karagandinsker Besserungsarbeitslagers (Karlag) in der Ausgabe vom 12. Februar 2009 gewissermaßen den fehlenden Kommentar zu der fünfzig Jahre alten Meldung nachreichte. »Der von 1930 bis 1959 bestehende riesige Lagerkomplex in der Steppe südwestlich von Karaganda diente dazu, mit billiger Häftlingsarbeit große Flächen für Vieh- und Agrarwirtschaft urbar zu machen – zur Versorgung der Bergarbeiterstadt Karaganda und darüber hinaus, vom Eigenbedarf abgesehen, anderer Besserungsarbeitslager. Doch wie auch in anderen Straflagern war im Karlag die auf Sklavenarbeit basierende Arbeitsproduktivität gering.«
Zu dieser Einschätzung waren die Chefs der Hauptverwaltung Lager in Moskau schon in den Nachkriegsjahren gelangt, als im Karlag 66000 Häftlinge schufteten. Doch an die »Lösung des Problems« ging die Lageradministration erst nach Stalins Tod. Sie mündete in den Befehl, die Gulags aufzulösen. Am 27. Juli 1959 war das Karlag an der Reihe. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich noch 17000 Häftlinge im Lager. Seit seiner Einrichtung Anfang der dreißiger Jahre hatte sich die Zahl der zur Aufrechterhaltung der Landwirtschaft benötigten Arbeitskräfte bei etwa 23000 Männern und Frauen eingepegelt.
Der Auflösungsprozeß hatte sich fast drei Jahre hingeschleppt. Die erste Lagerabteilung war im Mai 1956 aufgelöst, ihr Inventar an die entsprechenden Wirtschaftsministerien übergeben worden. Aus den landwirtschaftlich geprägten Lagerstandorten gingen mehr als fünfzig Staatsgüter der Tier- und Pflanzenproduktion hervor, in denen Ortsansässige und im ganzen Land angeworbene Arbeitskräfte tätig waren. Sie bestellten die von den Gefangenen erschlossenen Felder und pflegten die riesigen Herden des einstigen Karlag.
Unter welchen »Arbeits- und Lebensbedingungen« ihre Vorgänger hatten schuften müssen, sollten die Neuankömmlinge bald am eigenen Leibe erfahren. Sechzig Prozent der Häftlinge waren in Typenbaracken untergebracht gewesen, vierzig Prozent der Häftlinge in alten kasachischen Winterquartieren aus Lehm, die zwischen 1925 und 1930 errichtet worden waren und schon längst hätten abgerissen werden müssen. In der Regel wurden auch die wenigen vorhandenen Offiziersquartiere und Verwaltungsbauten weiter genutzt. Die Villa des Lagerkommandanten teilen sich heute nur noch vier Familien. Die in jeweils acht Wohneinheiten unterteilten Baracken des einstigen Frauenlagers in Dolinka, dem Sitz der Hauptverwaltung des Karlag, stehen noch heute.
Auch nach der großen Initiative in der Amtszeit von Nikita Chruschtschow ging es vorrangig um das Vieh, die Landtechnik und den Erhalt der Bewässerungsanlagen in der kasachischen Steppe. Der Effekt war gering, die lichten Höhen des Kommunismus blieben in weiter Ferne.
Heute bieten die Großbaustellen ein Bild des Verfalls und zeugen vom Scheitern des einst beschworenen großen Plans. Weiterlesen bei: Wladislaw Hedeler, Meinhard Stark: Das Grab in der Steppe. Leben im Gulag. Die Geschichte eines sowjetischen »Besserungsarbeitslagers« 1930–1959, 472 Seiten, 38 Euro; Wladislaw Hedeler (Hrsg.): Karlag. Das Karagandinsker »Besserungsarbeitslager« 1930–1959. Dokumente zur Geschichte des Lagers, seiner Häftlinge und Bewacher, beide Schöningh Verlag Paderborn 2008, 363 Seiten, 39,90 Euro
Schlagwörter: