23. Jahrgang | Nummer 25 | 7. Dezember 2020

Russisches Jahrhundert

von Attila Kiraly

Jürgen Kuczynski, auch nach Wende und deutscher Vereinigung oft als „Nestor der DDR-Gesellschaftswissenschaften“ bezeichnet, wurde im Nebenamt 1947 Präsident der neugegründeten „Gesellschaft zum Studium der Kultur der Sowjetunion“, die dann ab 1949 „Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft“ hieß. 1948 gründeten Kuczynski und der Linguist Wolfgang Steinitz eine Zeitschrift, die Sowjetwissenschaft genannt wurde. Später wurden daraus drei Zeitschriften, eine mit dem Untertitel Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge sowie Naturwissenschaftliche Beiträge und Kunst und Literatur. Aus Sowjetwissenschaft / Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge wurde dann in der Wendezeit die Zeitschrift Initial.

In der Vorbemerkung zum ersten Heft schrieben Kuczynski und Steinitz: „Die Sowjetwissenschaft stellt für den deutschen Leser und den Fachmann weitgehend eine Terra incognita dar, deren Zugang ihm durch die fehlende Kenntnis der russischen Sprache sowie durch die von beschränkter Uninteressiertheit bis zu feindlicher Absperrung allem Russischen und Sowjetischen gegenüber reichende Atmosphäre des Antibolschewismus verschlossen war.“ Die neue Zeitschrift sollte den deutschen Lesern Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung in der Sowjetunion nahebringen. Das galt im Grunde auch für die Übersetzung sowjetischer künstlerischer Literatur in der DDR.

Wenn der bedeutende russische Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Lew Kopelew betonte, dass es kaum zwei Literaturen gibt, die sich so stark gegenseitig beeinflusst haben, wie die deutsche und die russische, so hatte die DDR daran ihren spezifischen Anteil. Der hatte sich bald von dem ursprünglichen politischen Auftrag emanzipiert. Nach dem Tode Stalins, dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 und dem sogenannten Tauwetter Anfang der 1960er Jahre wurde die ganze Vielfalt der sowjetischen Literatur sichtbar, der wissenschaftlichen spätestens wieder in den 1980er Jahren, der künstlerischen seit je.

Dazu brauchte es Mittler, die dann oft nicht mehr nur Übermittler ins Deutsche, sondern aktive Teilnehmer der künstlerischen Entwicklungen in der Sowjetunion wurden. Einer davon war Fritz Mierau. Der Schriftsteller Paul Alfred Kleinert beschreibt seine erste Begegnung mit Mierau so: „Kiewer Bekannte schrieben uns Mitte der 1970er Jahre, dass bei Reclam Leipzig der bilingual gedruckte Band ‚Hufeisenfinder‘ mit Gedichten von Ossip Mandelstam erschienen sei, verantwortet von einem Herausgeber namens Fritz Mierau. Damit verbunden war der eindringlich mitgeteilte Wunsch, wir mögen ihnen doch so viele als uns zu erwerben mögliche Exemplare zusenden, da Mandelstam in der UdSSR offiziell noch immer als persona non grata gelte, sein Schrifttum nur äußerst schwer zu erhalten sei. Den Band in der DDR zu erstehen war seiner Zeit nicht mehr möglich (derselbe zählte zur Kategorie ‚Bückware‘), weshalb denn Mezinárodni Knihy in Prag der Ort des Einkaufes etlicher Exemplare wurde, die dann, bis auf eines, noch heute in meiner Arbeitsbibliothek befindlichen, ihren Weg in die Ukraine fanden (und auch – fast alle – ihren Bestimmungsort erreichten).“

Fritz Mierau (1934–2018) wurde in Breslau geboren und wuchs in Döbeln in Sachsen auf. Er berichtete später, sein Vater war während der gesamten Kriegszeit im Krieg, kehrte 1945 zurück und sagte: „Wir müssen die Sprache der Besatzungsmacht, die er ‚Patronatsmacht‘ nannte, gut lernen. Wir müssten mit denen auskommen, das würde sich lange hinziehen.“ Mierau lernte in der Schule nicht unwillig Russisch, wie viele andere, sondern mit Engagement und studierte dann 1952–56 an der Berliner Humboldt-Universität Slawistik. Zeit seines Lebens arbeitete er als Literaturhistoriker, vor allem als Übersetzer und Herausgeber. Er war Mitglied des Schriftstellerverbandes der DDR und des PEN-Zentrums Ost, publizierte über sowjetische Schriftsteller und Literatur. Der Schwerpunkt seiner Arbeiten lag auf der „Moderne“, der russischen Literatur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, darunter Anna Achmatowa, Isaak Babel, Alexander Blok, Ilja Ehrenburg, Sergei Jessenin, Wladimir Majakowski, Boris Pasternak und Marina Zwetajewa. Besonders am Herzen lagen ihm allerdings Anthologien, weil mit ihnen eine „Zusammensicht“ von Werken möglich war: frühe sowjetische Prosa, Briefe aus der Revolution, „Russische Stücke“ von Majakowski bis Bulgakow.

Im Jahre 2014 sagte Mierau, rückblickend: „Was mir am Herzen liegt, ist, dass wir von früh an gemeint haben, dieser ‚Sozialismus‘ genannte Zustand muss ursprünglich etwas enorm Anziehendes und Überzeugendes gehabt haben.“ Deshalb hatte er auch in der DDR immer die Bekanntschaft von Menschen gesucht, „die das empfunden haben“. „Wenn man sah, wie sie sich ohne auf Lohn oder Auszeichnung zu schielen, engagiert haben, sich für Leute eingesetzt haben, dann sah man, woher überhaupt dieser Schub kam, der ursprünglich da gewesen ist, ehe sich das in einem Staatsapparat zementiert hat.“ Im Grunde steht das metaphorisch auch für seine Arbeit mit und an der sowjetischen Literatur. Im Mai 2019 hatte der schon zitierte Paul Alfred Kleinert eine dreiteilige Veranstaltungsreihe anlässlich des 85. Geburtstages und ersten Todestags von Fritz Mierau veranstaltet. Berliner Debatte Initial hat jetzt (No. 3/2020) einige der dort präsentierten Texte publiziert.

Seiner Autobiographie, die 2002 erschien, hatte Mierau den Titel gegeben: „Mein russisches Jahrhundert“. Zu diesem Titel sagte er später, dass für ihn das 20. Jahrhundert ein russisches war, während das 21. ein „globales“ wird, das ihn aber nicht mehr sehr interessierte. Nach den Eckpfeilern dazu befragt, antwortete Mierau: „Es ist zunächst einmal geprägt durch den Umbruch um 1900 und durch den Aufbruch nach dem Ersten Weltkrieg, durch die furchtbaren Mühen und Qualen, die nach der Revolution kamen und durch die Art, wie man damit fertiggeworden ist, mit den Verfehlungen und Toten. Daran muss man weiter arbeiten, das ist nötig. Es genügt nicht, nur die Verluste darzustellen. Man muss versuchen, ein vollständigeres Bild zu gewinnen. […] Dass es je besser wird, das meine ich nicht. Keine Aussicht. Was jetzt los ist, ganz abgesehen von Russland, ist ja eine Art Weltkrieg. Der Versuch von Seiten der USA oder des Westens, die Oberhand zu gewinnen, ist sehr fragwürdig. Und das als großartige Errungenschaft zu preisen, was nun eben Demokratie heißt… Man lebt ganz gut, solange die wilderen Kräfte weiter draußen sind, aber wie lange?“

In dieser Weltsicht bezog sich Mierau auf Alexander Blok, der in seinem Aufsatz „Der Zusammenbruch des Humanismus“, Novalis folgend, geschrieben hatte: „Es gibt gleichsam zwei Zeiten und zwei Räume; einerseits Zeit und Raum – historisch, kalendermäßig bestimmbar, andererseits Zeit und Raum – nicht messbar, musikalisch. Nur erstere sind im Bewusstsein der Zivilisation ständig gegenwärtig; in letzteren leben wir nur dann, wenn wir der Natur nahe sind, wenn wir uns den Wellen der Musik überlassen, die aus dem Weltorchester klingt. Wir brauchen das Gleichgewicht der Kräfte nicht, um in Tagen, Monaten und Jahren zu leben. Mit dieser unnötigen Vergeudung von schöpferischer Kraft sinkt die Mehrheit der zivilisierten Menschen auf das Niveau von Spießbürgern herab. Doch wir brauchen dieses Gleichgewicht, um dem musikalischen Wesen der Welt, der Natur, den Elementen nahe zu sein.“ In diesem Sinne gilt, was Ralf Schröder, der zuständige Lektor im Verlag Volk und Welt in den 1970er Jahren zur Blok-Ausgabe an Mierau geschrieben hatte: „Die Geschichte kennt keine Sackgassen, sondern ‚nur‘ immer neue Zwischenzeiten, häufig sehr langwierige, bleiern lastende.“

Die gegenwärtige bleierne Zeit ist wieder von „beschränkter Uninteressiertheit und feindlicher Absperrung allem Russischen gegenüber“ geprägt.