23. Jahrgang | Nummer 20 | 28. September 2020

Aus Georg Seidels Nachlass

von Manfred Orlick

Dem Dramatiker Georg Seidel war nur eine kurze Schriftstellerkarriere vergönnt; häufig wurde er mit Heiner Müller oder Volker Braun verglichen. Der Literaturwissenschaftler Wolfgang Emmerich lobte ihn sogar in seiner „Kleinen Literaturgeschichte der DDR“ als hochbegabten Autor, bedachte ihn aber nur mit wenigen Zeilen. Im „Metzler Lexikon der DDR-Literatur“ findet man Seidels Namen nur versteckt unter einem Eintrag zum „Prager Frühling“. An dieser Geringschätzung hat sich in der Literaturforschung bis heute nicht viel verändert.

Geboren am 28. September 1945 in Dessau, gelernter Werkzeugmacher, ab 1968 Bühnenarbeiter am Dessauer Theater. Aufgrund seiner Verweigerung des Wehrdienstes mit der Waffe wurde er von der Ingenieurschule Karl-Marx-Stadt exmatrikuliert; danach musste er als Bausoldat seinen Dienst leisten. Ab 1973 arbeitete Seidel als Beleuchter bei der DEFA und ab 1975 am Deutschen Theater Berlin, nach 1982 schließlich als Mitarbeiter in der Dramaturgie. Seit 1987 schlug er sich als freischaffender Autor durch, bis Seidel am 3. Juni 1990 einem Krebsleiden erlag, ohne die erfolgreiche Uraufführung seines letzten Theaterstücks „Villa Jugend“ am Berliner Ensemble noch zu erleben. So die knappe Aufzählung seiner Lebensstationen.

Anlässlich des 75. Geburtstags des Autors ist im Quintus-Verlag ein Sammelband mit Texten aus dem Nachlass erschienen, darunter zahlreiche bisher unveröffentlichte Texte. Erstmals wird Seidel auch als Lyriker und Verfasser programmtisch-kluger Reflexionen über Literatur und Theater vorgestellt. In den „Notaten zum Theater“ formulierte Seidel, der sich stets als „schreibender Bühnenbeleuchtungsarbeiter“ sah, die künstlerischen Ansprüche an eigene Stücke: „Ein Theaterstück gehört auf die Bühne oder ins Feuer geworfen. Aber das entscheidet weder der Autor noch irgendwelche Dramaturgen. Bühne oder Feuer, das entscheidet die Qualität des Stückes selbst (Fehlentscheidungen können nicht als Gegenargumente benutzt werden).“

Seidels Nachdenken über das Theater basiert vor allem auf der eigenen Erfahrung: „Das Theater ist keine Besserungsanstalt, aber solange das Spiel dauert, bringt es Menschen, die sich in den Räumen des Theaters befinden, in eine andere Situation. Heute ,King Lear‘, morgen ,Charlies Tante‘. Wir haben kein absurdes Theater, aber wir haben absurde Spielpläne und die Gespräche mit dem Henker finden auf der Unterbühne statt.“ In einem fiktiven Gespräch „Wer heute nicht dem Konflikt ausweicht, den hält man für einen Idioten“ formuliert Seidel, was ihn am Theater fasziniert: „Der Raum, der aus Sprache gemacht ist. Und in diesem Raum stehen Menschen und sie rufen sich gegenseitig zu: Wimmere nicht, lebe mit deinen Gebrechen, lass dir nichts vormachen, lass dich nicht totschlagen und schlage andere nicht tot.“

Neben einem Filmexposé und Tagebuchnotizen versammelt der Band einige ausgewählte Stücke und Szenen. In „Brudermord“ streiten Kain und Abel über den Wert ihrer Arbeit als Ackerbauer und Schafhirte. Abel verteidigt zwar Kunst und Schönheit, „die wir mehr brauchen als den Pflug, der alles zerstört“, doch am Ende unterliegt er Kain im Zweikampf. Im Mittelpunkt der Neuerscheinung steht ein „Dramaturgischer Vorschlag zur bevorstehenden 750-Jahr-Feier Berlins 1987“, in dem Seidel unter anderen Napoleon, Friedrich II., Turnvater Jahn, Johannes Itten, Rudi Dutschke, Kurt Schwitters sowie Hitler mit Eva Braun auftreten ließ. Die groteske Szenenfolge zum Berlin-Jubiläum, die sich auch mit den gesellschaftlichen Entwicklungen der zerfallenden DDR auseinandersetzte, überspannte 200 Jahre Berliner Geschichte bis zum Abriss der Berliner Mauer, den der Autor bereits zwei Jahre vor dem tatsächlichen Ereignis vorwegnahm. Das außergewöhnliche Stück wartet allerdings bis heute auf eine Uraufführung. Auch die anderen Stücke Seidels wurden nach der Wende kaum noch gespielt.

Georg Seidel: Klartext: Bühne oder Feuer – Szenen, Gedichte, Prosa und Skizzen aus dem Nachlass, in Verbindung mit der Akademie der Künste hrsg. von Kristin Schulz. Quintus-Verlag, Berlin 2020, 176 Seiten, 20,00 Euro.