23. Jahrgang | Nummer 15 | 20. Juli 2020

Neue Seidenstraße und Grenzkonflikt Indien – China

von Edgar Benkwitz

Der grausame, archaisch anmutende Vorfall, der sich am 15. Juni 2020 in 4250 Meter Höhe im indisch-chinesischen Grenzgebiet in der Nähe des Karakorum-Gebirgszuges abspielte, hat diese abgelegene Region Asiens in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gelenkt. Hier, wo uralte Handelsrouten von Indien nach Innerasien verlaufen, schlugen beim Streit um wenige Quadratkilometer öden Gebirgslandes indische und chinesische Soldaten mit Knüppeln, Eisenstangen und Steinen barbarisch aufeinander ein. Indien beklagte 20 Opfer, China gab die Zahl seiner Verluste mit drei Toten an.

Dieses Ereignis ist eines von vielen Vorkommnissen an der 3488 Kilometer langen, umstrittenen indisch-chinesischen Grenzlinie. Seit 1967 hat es jedoch bei allen Streitereien keine Todesfälle gegeben, Missverständnisse konnten geklärt werden. Dieses Mal scheint jedoch vieles anders zu sein. Es wird deutlich, dass China hier größere strategische Ziele verfolgt. Aber auch Indien stärkt seine Positionen und scheint ein Kräftemessen nicht zu scheuen.

Das Gebiet des gewaltsamen Aufeinandertreffens liegt im östlichen Ladakh, eine Region, die mit ihrer Hauptstadt Leh schon immer ein Teil von Kaschmir war. Doch dieser nordwestlichste Zipfel Indiens hat keine gesicherten Staatsgrenzen. Im Osten liegt China mit seiner Provinz Tibet. Die gemeinsame Grenzlinie, die „line of actual control“ (LAC), stützt sich auf alte, oft lückenhafte Vermessungskarten aus der Kolonialzeit, sie ist weder aktuell vermessen noch demarkiert. Hier hatten chinesische Truppen bereits 1962 ein 38.000 Quadratkilometer umfassendes Gebiet – Aksai Chin – besetzt, das auch Indien beansprucht. Im Norden und Nordwesten grenzt Ladakh an die Gebiete Gilgit und Baltistan. Früher zum Fürstentum Kaschmir gehörend, werden sie seit dessen gewaltsamer Teilung 1947 von Pakistan regiert. Indien bezeichnet dieses Gebiet zusammen mit einem Streifen des Kaschmirtals als „von Pakistan okkupiertes Kaschmir“. Die Grenzlinie zwischen Indien und Pakistan, die „line of control“(LOC), hat heute nach mehreren kriegerischen Auseinandersetzungen praktisch den Charakter einer gesicherten Waffenstillstandslinie.

Die Entstehung eines pakistanischen Teils Kaschmirs führte überhaupt erst zu einer pakistanisch-chinesischen Grenze, die entlang des Karakorum-Gebirgszuges verläuft. Im Zuge einer Grenzkorrektur hat Pakistan 1963 5180 Quadratkilometer dieses Territoriums, das Shaksgam Valley, an China abgetreten. China nutzt die gemeinsame Grenze, um hier seit 2015 eines der bedeutendsten Projekte der „Neuen Seidenstraße“ zu errichten. Die Vollendung des über 60-Milliarden-Dollar-Projekts, „Ökonomischer Korridor“ genannt, ist bis 2030 vorgesehen. Es ist eine Lebensader, die Westchina von Kaschgar durch das pakistanische Kaschmir, dann quer durch Pakistan mit dem Indischen Ozean verbindet und westlich von Karatschi im Hafen Gwadar endet. China baut hier Straßen, Eisenbahnen, Öl- und Gaspipelines, Telekommunikationsverbindungen und Industrieanlagen. Hinzu kommen Projekte abseits dieser Trasse, wie ein großes Wasserkraftwerk am Fluss Jhelum, das für 2,4 Milliarden US-Dollar errichtet werden soll. Es ist die bisher größte ausländische Einzelinvestition in Pakistan.

Seit Amtsantritt der hindunationalistischen Regierung Modi ist Indien verstärkt bemüht, seine berechtigten Interessen in der Region geltend zu machen und das dortige Geschehen mit zu bestimmen. An der Grenzlinie zu China wird im schnellen Tempo die Infrastruktur ausgebaut. Straßen, Brücken und Landebahnen werden vornehmlich für militärische Zwecke errichtet. Eine bedeutende politisch-administrative Veränderung wurde am 5. August 2019 vorgenommen: dem Unionsstaat Jammu und Kaschmir, der an China und Pakistan grenzt, wurde der Autonomiestatus und damit die relative Eigenständigkeit genommen. Stattdessen gibt es jetzt zwei Unionsterritorien, die direkt der Regierung in Neu Delhi unterstellt sind. Gleichzeitig erneuert Indien ständig seinen Anspruch auf das „von Pakistan okkupierte Kaschmir“, damit wird indirekt auch die Grenze Pakistans mit China in Frage gestellt.

China sieht durch die Politik Indiens – obwohl primär gegen Pakistan gerichtet – auch seine Interessen gefährdet. So nimmt es nicht wunder, dass es bei der Aufhebung des Autonomiestatus’ für Jammu und Kaschmir und die Einrichtung von zwei Unionsterritorien vehement protestierte. China behauptete, das buddhistische Ladakh – einer der beiden neuen Unionsterritorien – wäre chinesisches Gebiet und Indien versuche, die Souveränität Chinas zu unterminieren.

Es zeigt sich immer deutlicher, dass Kaschmir, der ewige Zankapfel zwischen Indien und Pakistan, nicht nur eine Angelegenheit zwischen diesen beiden Staaten ist. China unterstützt zwar nicht offiziell die pakistanische Politik, die letztendlich auf einen Anschluss ganz Kaschmirs an Pakistan orientiert, akzeptiert aber den jetzigen Zustand, das heißt die Teilung, und nutzt ihn für seine Zwecke aus. Es brüskiert damit den Anspruch Indiens auf das von Pakistan regierte Gebiet in Kaschmir und tätigt dort trotz indischer Proteste seine Investitionen. Dieser Teil Kaschmirs entwickelt sich immer mehr zu einem Korridor Chinas zum Indischen Ozean. Gemeinsam mit Pakistan werden Fakten geschaffen, die eine Rückkehr zu früheren Zuständen praktisch ausschließen. China wacht auch darüber, dass seine Positionen in der Region nicht gefährdet werden. So wird der forcierte Ausbau der Infrastruktur auf indischem Gebiet, der die indisch-chinesische und indisch-pakistanische Grenzlinie berührt, als Bedrohung aufgefasst. China will nicht zulassen – so die Meinung von Experten – dass sich Indien militärisch-strategische Positionen zulegt, von denen Störungen gegen seine Einrichtungen ausgehen können. Die wiederholten Zusammenstöße zwischen chinesischen und indischen Truppen müssen vor diesem Hintergrund gesehen werden.

Doch Indien ist entschlossen, seine Politik fortzuführen. Demonstrativ besuchte Premierminister Modi am 3. Juli die große Militärbasis Nimu in Ladakh. Er sprach vor den versammelten Truppen und suchte Verwundete des Massakers im Hospital auf. Sein Außenminister hatte schon vorher Klartext geredet und China vorgeworfen, den schweren Grenzzwischenfall am Galwan-Fluss vorsätzlich geplant zu haben. China wurde aufgefordert, den seit Jahren bestehenden status quo zu akzeptieren und einseitige Veränderungen rückgängig zu machen. Es wird von etwa 60 Quadratkilometern gesprochen, die bisher von Indien kontrolliert, seit Anfang Mai durch Außenposten des chinesischen Militärs besetzt sind. „Den status quo mit Gewalt zu verändern, wird nicht nur den Frieden in den Grenzgebieten gefährden, sondern Auswirkungen auf die bilateralen Beziehungen haben“, heißt es in einer Erklärung des Außenministeriums.

China spielt die Vorfälle politisch herunter und versucht, Zeit zu gewinnen. Am 5. Juli konferierten per Telefon erstmals der Nationale Sicherheitsberater Indiens und der Außenminister Chinas miteinander. Vorerst wurde ein Auseinanderrücken sich gegenüber stehender Truppen vereinbart. Realistisch betrachtet, verfügt Indien gegenwärtig über kein wirksames Mittel, um die Gegebenheiten an seinen Nordgrenzen zu ändern. China hat die besseren Positionen, zumal seine Interessen mit denen Pakistans in der Region eng verflochten sind. Indien kann nur langfristig mit diplomatischen, wirtschaftlichen und auch militärischen Mitteln versuchen, seinen Standpunkt zu stärken. Nationalistische Kreise fordern indes, auf außenpolitischem Gebiet Korrekturen gegenüber China vorzunehmen, wie beispielsweise bisher vertretene prinzipielle Standpunkte zu Taiwan oder Tibet aufzugeben sowie sich stärker den USA zuzuwenden. Auch auf wirtschaftlichem Gebiet gibt es Forderungen nach einem Boykott chinesischer Waren und strengen Regulierungen für chinesische Investitionen. Ob das freilich Indien nutzt oder schadet, ist nicht klar. Letztendlich – und das ist die Meinung vieler Experten – muss China jedoch bewegt werden, gemeinsam mit Indien das Störpotential am gesamten Grenzverlauf auszuräumen. Ein Auseinanderrücken der Truppen in den Konfliktgebieten, wie es in den letzten Jahren immer wieder geschehen ist, reicht nicht mehr aus, um stabile und friedliche Zustände herzustellen.