23. Jahrgang | Nummer 14 | 6. Juli 2020

Kripo (2018)

von Lutz Unterseher

Haselhorst ist ein östlicher Teil des Berliner Stadtbezirks Spandau. Bekanntlich wurde dort Elke Sommer geboren. Weniger bekannt dürfte sein, dass Haselhorst die Lokation der ersten großen, modernen Arbeitersiedlung Deutschlands ist: in der Weimarer Republik geplant und begonnen, von den Nazis fertig gebaut. Letztere taten das sicherlich nicht gerne, hatten sie doch für „neue Sachlichkeit“ so gar nichts übrig. Doch sie, die Armen, mussten in einer Zeit, als ihr totaler Machtanspruch noch nicht überall durchschlug, einmal geweckte Ansprüche der Bevölkerung respektieren.

An einem regnerischen Tag fahre ich in einem Bus der Linie 139 durch besagten Ortsteil – auf dem Weg in das heimatliche Hakenfelde, im Norden Spandaus gelegen (kurz vor der alten DDR-Grenze). Unvermittelt spüre ich, dass meine Blase zu voll und mein Magen zu leer ist.

Ich steige also spontan an der Haltestelle aus, in deren unmittelbarer Nähe meine deutsch-spanische Lieblingsgaststätte liegt. Diese aber hat geschlossen. (Ich habe vergessen, dass der Wirt sich in Spanien erholt.)

Da es, wie gesagt, regnet, habe ich keine Zeit, lange nach einer Alternative zu suchen. So finde ich in einer ausgebauten Imbissstube, die schräg gegenüberliegt, Unterschlupf. Das Etablissement bietet in einem Innenraum, in dem sich auch eine Vorspeisenvitrine und ein Pizza-Ofen befinden, 18 Gästen Platz. In dem beheizbaren, zeltartigen Vorbau können weitere 12 Personen versorgt werden.

Name der Einrichtung: „Ital.-Snack“. Dieser prangt, als Leuchtreklame, über der Eingangstür – gepaart mit einer angestrahlten Darstellung, welche die kartografischen Umrisse Italiens zeigt, und zwar in den Landesfarben gestreift. Alles ist auf Italienisch getrimmt: nicht überraschend, dass die Speisekarte das entsprechende Angebot enthält (und nichts sonst, also etwa keine Currywurst).

Dazu kommen aber noch die Servietten mit den italienischen Landesfarben am Rand, die rot-weiß karierten Tischtücher sowie die einschlägigen Farblandschaften an den Wänden. Und dauernd stößt das doppelköpfige Imbisspersonal Worte hervor wie: buon giorno, ar-rivederci, grazie und prego. Sonst spricht man untereinander und mit den Gästen ein klobig-gutturales Deutsch.

Beim Aussprechen der Bezeichnungen auf der Speisekarte passieren allerdings gelegentlich kleine Missgeschicke – zum Beispiel: „Gnotschis“ für Gnocchi. Im Übrigen erscheint mir das – männliche – Personal ein wenig zu grobschlächtig, um für Italiener durchzugehen. Vorurteilsbehaftet denke ich an Kroaten.

Im Sinne der Risikominimierung bestelle ich eine kleine Pizza Salami. Diese ist von der Substanz und der Zubereitung her in Ordnung. Allerdings fehlt das gewisse Etwas, das den genuin italienischen Geschmack ausmacht.

Eigentlich möchte ich zum Essen einen Chianti trinken, lasse mir jedoch zur Sicherheit einen Probeschluck kredenzen. Gott sei Dank! Denn sonst hätte ich mir etwas einverleiben müssen, das nur eine sehr entfernte Verwandtschaft mit Wein beanspruchen kann.

Als Alternative erhalte ich ein Glas Bier der „Hausmarke“. Ein Grenzfall. Doch ich sage mir, dass der echte Römer eher Bier als Wein zu seiner Pizza trinkt, und dass Ersteres auch nicht immer vom Feinsten ist.

Einigermaßen gesättigt beginne ich mein Umfeld näher in Augenschein zu nehmen – insbesondere die Gäste. Da sind zwei Omas, wovon die eine recht kregel zu sein scheint. Dazu zwei Handwerker, die dabei sind, es ist früher Nachmittag, einen zu heben, sowie eine irgendwie uninteressant wirkende Kleinfamilie. In einer Ecke sitzt ein schweigsamer älterer Mann, der ab und zu an seinem Bier nippt und einen düsteren – um nicht zu sagen: bedrohlichen – Eindruck macht. Im Übrigen gibt es Laufkundschaft, die Pizza bestellt oder abholt. Die im Vorbau sitzenden Leute kann ich nicht genau sehen.

Da reitet mich der Teufel. Ich bestelle bei dem Älteren der beiden Imbissmenschen, der Jüngere arbeitet hinter der Vitrine oder in einem Nebenraum, einen doppelten „Grappino“: in bemüht-korrektem Italienisch. Der Angesprochene ist verdutzt, so etwas ist ihm wohl noch nie passiert, und sagt dann: „Ich bin Türke, versteh’ nicht, was Sie wollen.“ Darauf ich, in einer Art Stentorstimme: „Kripo Berlin.“

Die Schrecksekunde des Mannes, der sich gerade geoutet hat, ist überraschend kurz. Sofort bricht es aus ihm heraus: „Sie müssen doch wissen, dass jeder in Berlin eine italienische Gaststätte betreiben darf. Jeder, jeder, jeder!“ Ich sage: „Leider.“ Er blickt mich ziemlich böse an, und ich bekomme es mit der Angst zu tun, denn was ich getan habe, ist verboten.

Das Publikum freilich scheint eine Illusion ärmer zu sein. Hatte man doch geglaubt, bei einem veritablen Italiener zu sein. Ich trete den geordneten Rückzug an, gebe ein unangemessen hohes Trinkgeld und verlasse die Walstatt. Die Lebendigere der beiden Omas ruft mir nach: „O lala Herr Kommissar!“

Entnommen dem jüngsten Buch des Blättchen-Autors Lutz Unterseher: Fremd und Nah. Vignetten aus fünf Jahrzehnten, LIT Verlag, Münster 2020, 83 Seiten, 19,90 Euro.