Auch bei den Neu-Rechten hat die Identität einen Lauf. Es gibt eine eher im intellektuell-studentischen Milieu angesiedelte Bewegung, die das Titel-Wort im Namen führt: Identitäre Bewegung. „Identitär“ ist für die Identitären, wer sich zu seiner regionalen, nationalen und kulturellen Herkunft bekennt: „Heimat, Freiheit, Tradition.“ „Nicht rechts, nicht links – nur identitär“ findet sich als Marschroute auf der Homepage der Bewegung, „100% Identität – 0% Rassismus.“ Alles in allem offenbar eine Bewegung in seliger Übereinstimmung mit dem, was sie glaubt zu sein, die ihr „Selbst“ als erlebte innere Einheit wahrnimmt; die auf dem Stolz gründet, für eine große (nationale) Kultur zu stehen. Also im völligem Einklang mit dem, wofür Identität grundsätzlich steht.
Wirklich? Schon eine oberflächliche Sichtung des breit gestreuten Propagandamaterials zeigt, was die Identitären tatsächlich umtreibt: Angst vor Fremden, vor der „Islamisierung“ Deutschlands respektive Europas, vor dem Verlust der kulturellen Identität beider. Martin Sellner, Sprecher der Identitären Bewegung Österreich fabuliert vom „Großen Austausch“, ergo, dass die „Asylindustrie“ unter Führung mächtiger Juden die Migration von Muslimen nach Europa fördert, um dessen Nationen zu zerstören. Ist es daher nicht viel mehr so, dass die Identitäre Bewegung nicht auf „100% Identität“, nicht auf Selbstbewusstsein, sondern auf destruktiven Zerstörungsphobien, massiven Bedrohungsängsten gründet? Der Politologe Herfried Münkler bemerkt dazu: „Nicht Stolz, sondern Angst steht hinter der gegenwärtigen Konjunktur des Identitätsbegriffs.“ Und Phobien, Bedrohung haben mit Identität nichts zu tun; sie sind ihre Negation. Da ist man eben nicht mehr „bei sich“, nicht mit sich in Einklang, sondern ist in sich verunsichert, gespalten.
„Zerstörung von Europas Nationen“ – klingt martialisch. So ist es beinahe selbsterklärend, dass die Identitären in ihrer Außendarstellung auch auf eine gewisse Kriegsrhetorik setzen; es fällt das Stichwort Reconquista, bekanntlich die Rückeroberung der von Muslimen beherrschten iberischen Halbinsel durch spanische Christen – bei den Identitären sind es die „westgotischen Reichsnachfolger“ – zwischen dem 8. und 15. Jahrhundert. Zwar „stehen wir heute in keiner unmittelbaren militärischen Konfrontation“ – so die Identitären weiter – „und dennoch dominiert der Zeitgeist der Selbstabschaffung durch die Ideologie von Multikulti. Es ist also vornehmlich ein Kampf um Ideen, Begriffe und politische Positionen.“ Und es geht um einen Treppenwitz der Weltgeschichte: Mit der Reconquista beschwören die Identitären ideell einen historischen Vorgang, der maßgeblich das Gesicht der heutigen Welt prägte; sie schuf die mittelbaren Voraussetzungen einer sich immer rasanter ausbreitende Europäisierung respektive Globalisierung. Denn kaum war die Reconquista Anfang 1492 mit der Eroberung des muslimischen Granadas durch die Reyes Católicos Isabella und Ferdinand abgeschlossen, stieß Christoph Columbus in spanischem Auftrag im August des gleichen Jahres in See, womit die Conquista, die Eroberung der „Neuen Welt“ begann. Die erst Spanien und später anderen europäischen Ländern zuzuordnenden Niederlassungen trugen ganz erheblich dazu bei, Europa für Jahrhunderte zum ökonomischen und politischen Zentrum der Welt werden zu lassen, die jene koloniale Dominanz ermöglichten, die bis heute das Gefälle zwischen dem reichen Norden und dem armen Süden ausmacht.
Darüber hinaus kam zu einer ironischen, für den Gang der Geschichte aber entscheidenden Volte: Präsidenten Beider Amerika – US-Präsident Donald Trump und sein brasilianischer Kollege Jair Bolsanero – schlossen in ihrem Aktionismus gegen das „ausländische“ Virus die Grenzen zu Europa; es gäbe jedoch beide Staaten, und alle anderen in dieser Hemisphäre, in der heutigen Form überhaupt nicht ohne Viren! Den Garaus machten den vorkolumbianischen Zivilisationen nicht etwa die Musketen und Piken der Eroberer aus der Alten Welt, sondern Krankheiten und Seuchen; sie waren die beste „Waffe“ der Invasoren. Den ab 1492 in die Neue Welt eingeschleppten Erregern von Grippe, Typhus, Masern und vor allem der todbringenden Blattern, gegen die die Europäer schon eine gewisse Immunität aufbauen konnten, standen die Ureinwohner Amerikas völlig schutzlos gegenüber. So gelang jeweils einer Handvoll Bewaffneter – und Virenträger – die Kolonisierung jeweils riesiger unterschiedlicher Territorien eines ganzen Kontinents. Bis zu 100 Millionen Menschen starben so auf dem Doppelkontinent an „europäischen“ Krankheiten; eine demographische Verwüstung sondergleichen. Damals wäre also eine Grenzschließung gegenüber Europa mehr als angeraten gewesen! Nach Eroberungen durch Epidemien gibt es in der Regel keine Zerstörungen dessen was ist, der Infrastruktur. Was es aber nach Epidemien in der Regel gab, war wegen der hohen Todesraten der Einheimischen ein Mangel an Arbeitskräften.
Die von Europa ausgehenden weltweiten maritimen Unternehmungen pflügten Staaten, Völker, ihre Existenzformen überall auf der Erde regelrecht um; die Facetten des globalen Austausches waren erst Pflanzen, Tiere sowie Gold und Silber, später Sklaven als Arbeitskräfte, dann immer stärker Waren und Wissen. Was über die Zeit zu gegenseitig wirksamen Einflüssen der Kulturen aufeinander, kultureller Vielfalt, letztlich zum „identitär“ beklagten „Multikulti“ führte. Immer jedoch begleiteten Viren und Mikroben diesen weltweiten Handel und Wandel; wie die sich bildende Weltgemeinschaft jedes Mal schmerzlich erfuhr und erfährt, medizinisch-hygienischer Progress hin oder her. Aber auch Europäer fielen „fremden“ Krankheiten zum Opfer; so gilt beispielsweise die Syphilis als amerikanischer Import.
Dieses Weltumspannende und die daraus folgende geringere Gewichtung des Nationalen haben in den Augen nicht Weniger zu einer Legitimationskrise der westlichen Demokratien geführt. Potenziert durch Medien, deren neue Formen und so auch Inhalte unser Denken und unsere Debatten radikalisierten, wurden Ängste und Unsicherheiten geschürt und verstärkt. Reaktionen auf diese Phänomene war die zwanghafte, ja panische Suche der Menschen nach Zugehörigkeit, Identität; auf dieser Welle reiten auch die Identitären. Im akademischen Milieus „sind es vor allem Geschlechterfragen, Fragen der sexuellen Orientierung, der Hautfarbe, die zu Identifikationsangeboten werden, auf der anderen Seite haben Konflikte mit Migrations- und Fluchtfolgen (…) neurechte Ideologien stark gemacht. […] So unterschiedlich all diese Formen sind, so sehr eint sie“, wie der Soziologe Armin Nassehi betont, „dass sie die Welt in Gruppen einteilen und einen Raum für Kulturkämpfe um die Hegemonie jener Gruppen bieten.“ Die Identitären führen diese Kulturkämpfe auf ihre Art: Jedes „Volk“ habe als ethnisches Kollektiv eine separate gemeinschaftliche Kultur und einen je „eigenen Charakter“, die gegen Bedrohungen und Vermischungen zu schützen seien. Zugrunde liegt dem eine biologisch begründete Homogenität einer Abstammungsgemeinschaft, die zu ihrem Erhalt ihre kulturelle „Reinhaltung“ von äußeren „fremden“ oder gar „feindlichen“ Einflüssen sichern muss: „Ethnopluralistische Vielfalt“ statt „kulturellen (supranationalen) Einheitsbreis“.
Historisch verantwortet Europa diesen „Einheitsbrei“; seit 600 Jahren ließ es sich ihn gut schmecken. Ginge es nach dem teutschen identitären Suppen-Kaspar – im Buch vom „Struwwelpeter“ verweigert er die Suppe und verhungert –, eine Essensverweigerung wäre nicht zu den privilegierten Bedingungen des status quo zu haben. Es könnte sogar gut sein, dass das Coronavirus den Übergang von der kolonialen zur postkolonialen globalen Neuordnung nochmals erheblich beschleunigte oder sogar eine neue hegemoniale ökonomische und politische Weltordnung einläutete. Es spräche einiges dafür, dass diese ihr Zentrum dort hätte, von wo sich das Virus ausbreitete. Es wäre keine Kopie des historischen Vorgangs, weckte aber Erinnerungen daran. Aber der identitäre Traum von der nationalen Scholle käme möglicherweise seiner Verwirklichung näher, mit allen Konsequenzen.
Schlagwörter: Identitäre, koloniale Dominanz, Kulturkämpfe, Seuchen