Der türkische Präsident sorgt mit seinen Entscheidungen und Ankündigungen immer wieder für große Aufmerksamkeit. Im September vergangenen Jahres zum Beispiel erklärte Recep Tayyip Erdoğan auf einer Veranstaltung in der türkischen Stadt Sivas: „Einige Länder haben Raketen mit nuklearen Sprengköpfen, nicht nur eine oder zwei. Aber sie sagen uns, wir könnten sie nicht haben. Das akzeptiere ich nicht.“
Wenig später kritisierte er in seiner Rede vor der UN-Vollversammlung, dass die Staaten, die Massenvernichtungswaffen beisitzen, sie in Krisen als Druckmittel einsetzten, anstatt sie zu vernichten. Erdoğan fuhr fort: „Der Besitz von nuklearer Macht sollte entweder für alle verboten oder für alle erlaubt sein. Lasst uns dieses Problem im Sinne einer friedlichen Zukunft der Menschheit so schnell wie möglich auf der Basis von Gerechtigkeit lösen.“
Mehrdeutige Aussagen also – manche interpretierten sie als ein Streben Erdoğans nach Atomwaffen. Der türkische Politikwissenschaftler Hakki Tas vom GIGA-Institut für Nahoststudien in Hamburg warnt jedoch davor, die Worte von Erdogan in dieser Frage allzu ernst zu nehmen: „Wie viele andere Beobachter bin auch ich der Überzeugung, dass er keinen konkreten Plan angekündigt hat, mit dem die Türkei jetzt Nuklearwaffen anstrebt.“ Er habe nur die Ungerechtigkeit im internationalen System und speziell den Nuklearwaffenbesitz Israels im Nahen Osten angeprangert – und zwar auch aus innenpolitischen Gründen, sagt Tas: „Eine antiwestliche Rhetorik hat in der Türkei eine lange Tradition. Und Erdoğans Worte, dass der Westen gegenüber der Türkei eine Doppelmoral an den Tag legt – solche Argumente kommen in der Türkei gut an.“
Die Türkei ist Mitglied des Atomwaffensperrvertrages. Sie hat sich – wie die meisten Staaten der Welt – für eine Konferenz über einen massenvernichtungswaffenfreien Nahen Osten eingesetzt und den mangelnden Abrüstungswillen der Atommächte kritisiert. Das könnte ein weiterer Grund für Erdoğans Aussagen zu Nuklearwaffen im September gewesen sein, vermutet der US-amerikanische Nuklearexperte Mark Hibbs von der Denkfabrik Carnegie-Stiftung: „Wir stehen vor einer Überprüfungskonferenz der Staaten des Sperrvertrags. Erdoğan will eine Position einnehmen, die die Interessen von Entwicklungsländern vertritt. Er will sich auch als eigenständige Instanz profilieren gegenüber mächtigen Ländern mit mächtiger Waffen.“
Ohne Zweifel versucht Erdoğan, den Einfluss der Türkei als eigenständiger Akteur in der Region und in der Welt zu erhöhen. Den türkischen Handlungsspielraum versucht er auch dann auszuweiten, wenn solche Bestrebungen nicht im Einklang stehen mit den Vorstellungen der USA und der anderen NATO-Bündnispartner – zum Beispiel durch den Kauf russischer Flugabwehrsysteme. Auch setzt Ankara dabei vermehrt auf das Militär – beispielsweise durch den Einmarsch in Nordsyrien und die Entsendung von Soldaten nach Libyen. Besonders wichtig ist dem türkischen Präsidenten zudem der Aufbau einer eigenen Rüstungsindustrie. Bisher gibt es jedoch keinerlei Hinweise darauf, dass die Türkei an der Entwicklung von Atomwaffen arbeitet. Die nukleare Expertise und die vorhandenen atomaren Einrichtungen seien auf einem sehr niedrigen Niveau, meint Nuklearexperte Mark Hibbs: „Die Türkei hat ein nationales Kernforschungszentrum wie Deutschland und viele andere Staaten. Und in diesem Kernforschungszentrum werden auch Experimente durchgeführt mit Uran und anderen radioaktiven Substanzen. Allerdings sind diese Aktivitäten völlig unter der Kontrolle der Internationalen Atombehörde in Wien.“
Und die Atomenergiebehörde bestätigte bisher jedes Jahr, dass die Kernforschung in der Türkei zivilen Charakter hat. Anders als zum Beispiel Brasilien hat die Türkei auch das sogenannte Zusatzprotokoll der Internationale Atomenergiebehörde ratifiziert. Dieses Dokument gibt der IAEO umfassendere Kontrollrechte.
Außerdem hat die Türkei in den vergangenen Jahren ihren Forschungsreaktor umgestellt: Für Brennstäbe wird nun niedrig angereichertes Uran verwendet. Für den Bau einer Atombombe bräuchte man hochangereichertes Uran. Der russische Nuklearexperte Andrej Baklitski vom regierungsunabhängigen PIR-Institut in Moskau kommt daher zu dem Schluss: „Die Türkei ist völlig transparent und erfüllt die höchsten Maßstäbe in Bezug auf die Nichtverbreitung. Dass Ankara seinen Forschungsreaktor auf leichtangereichertes Uran umgestellt hat, deutet zudem darauf hin, dass es kein geheimes Nuklearwaffenprogramm betreibt“.
Sollte die Türkei allerdings ihre bisherige Haltung ändern, müsste sie einen sehr langen und teuren Weg gehen. Denn die technologischen Voraussetzungen für solch ein Programm sind denkbar ungünstig. Außerdem würden die IAEO-Inspektoren derartige Bemühungen schnell erkennen. Auch das im Bau befindliche erste Atomkraftwerk in der Türkei – es soll 10 Prozent des Energiebedarfs des Landes decken – würde mögliche Nuklearwaffen-Ambitionen nicht erleichtern. Denn das AKW wird mehrheitlich dem russischen Staatsunternehmen Rosatom gehören, Das wird auch die Kernbrennstäbe liefern. Hakki Tas vom Hamburger Giga-Institut sagt: „Selbst wenn diese Reaktoren in Betrieb sind, wird die Türkei damit weder die Infrastruktur noch das Wissen haben, um Uran anzureichern. Denn es wird aus Russland importiert werden.“
Ankara würde zudem ein für Erdoğan sehr wichtiges Energieprojekt aufs Spiel setzen, falls es ein Atomwaffenprogramm auflegen würde. Zu erwarten wären nicht nur massiver Druck von den NATO-Bündnispartnern, Beschlüsse des UN-Sicherheitsrates und Wirtschaftssanktionen. Folgen hätte eine solche Entscheidung auch für das Kernkraftwerk. Mark Hibbs: „Als Sperrvertragsmitglied müsste Russland darauf reagieren. In einer Situation, wo die Türkei ihren Nichtverbreitungsverpflichtungen nicht nachkommt, müsste die Russische Föderation die Zusammenarbeit mit der Türkei kündigen.“ Andrej Baklitski geht davon aus, dass Moskau für diesen Fall den Bau und den für 2023 geplanten Betrieb des Kernkraftwerks in der Türkei einstellen würde. Denn: „Russland ist dagegen, dass Länder Atomwaffen entwickeln – vor allem, wenn es Nachbarstaaten sind. Es würde versuchen, die Türkei mit diplomatischen und anderen Mitteln davon abzuhalten.“
Die Regierung in Ankara unterstützt das Atomabkommen mit Iran, das die USA gekündigt haben und dessen Zukunft ungewiss ist. Die Türkei sieht zwar in Teheran keine unmittelbare Bedrohung. Das könnte sich aber ändern. Zum Beispiel dann, wenn Iran versuchen würde, Atomwaffen zu entwickeln und als Folge auch Saudi-Arabien wie angekündigt nach der Bombe greift. Der türkische Politikwissenschaftler Hakki Tas vermutet: „Falls Iran und Saudi-Arabien einen nuklearen Rüstungswettlauf beginnen, wird die Türkei folgen. Auch das wollte Erdoğan signalisieren.“
Allerdings ist nach wie vor unklar, ob Iran wirklich nach Atomwaffen strebt – selbst wenn Teheran jetzt schrittweise seine Verpflichtungen aus dem Atomabkommen nicht mehr beachten will. Andrej Baklitski vom Moskauer PIR-Center: „Fakt ist, dass sich das iranische Nuklearprogramm nicht in Windeseile auf eine Atombombe zubewegt. Iran erhöht auch seine Kapazitäten nicht blitzartig, sondern in kleinen, wohlkalkulierten Schritten. Das Ziel ist, Druck auf die Europäer und die Amerikaner auszuüben, damit die Sanktionen wieder aufgehoben werden. Teheran hat seit 2003 kein aktives Atomwaffenprogramm und das Land ist auch nicht wirklich daran interessiert, in diese Richtung zu gehen.“
Die türkische Regierung dürfte das ähnlich einschätzen. Auch deshalb sind Erdogans Atomwaffen-Anspielungen hauptsächlich nukleare Rhetorik – Hinweise, dass die Türkei gegenwärtig tatsächlich Nuklearwaffen anstrebt, gibt es jedenfalls nicht.
Dieser Artikel basiert auf einem Beitrag des Autors für die Senderreihe „Streitkräfte und Strategien“ (NDR-Info, 8.2.2020).
Schlagwörter: Atomwaffen, Recep Tayyip Erdoğan, Türkei