22. Jahrgang | Nummer 26 | 23. Dezember 2019

Heimat

von Attila Király

Das neue Heft der Zeitschrift Berliner Debatte Initial (Heft 3/2019) ist dem Thema „Heimat“ gewidmet und wurde „Heimatkunden“ betitelt. Will sagen: Es gibt unterschiedliche Kunden davon, was denn Heimat sein könnte. Am Rande war zu hören, dass es verwirrte Fragen gegeben hatte, ob das nicht ein „rechtes Thema“ sei. So weit sind wir, dass man nicht mehr über seine eigene Heimat reden kann, ohne einen AfD-Stempel auf den Hintern zu bekommen.
Der dem Wesen nach zentrale Beitrag stammt vom Nestor der Kulturwissenschaft in der DDR, Dietrich Mühlberg. Es ist das überarbeitete Referat, das er im Vorjahr in einem kulturpolitischen Arbeitskreis der Rosa-Luxemburg-Stiftung gehalten hatte. Seine Zusage zu dem Referat beschreibt er mit viel Understatement so: Er sei gefragt worden, ob er „bereit und in der Lage wäre, aus kulturwissenschaftlicher Perspektive etwas über den Umgang mit Heimat vorzutragen“. Er sagte zu „mit der Einschränkung, dass es mir nicht möglich sei, die aktuellen Debatten umfänglich aufzuarbeiten. Eher könnte ich einige kulturgeschichtliche Informationen beisteuern.“ Herausgekommen ist ein sehr lesenswerter und instruktiver Beitrag.
Mühlberg beginnt mit einer sehr subjektiven Perspektive: „In den letzten Jahren geriet ich öfter in Gesprächsrunden, in denen Heimat ein strittiges Thema war. Nach meiner Meinung gefragt, war ich häufig ungenau – zu viel kam in diesen, emotional leicht aufgeladenen Heimatdebatten gleichzeitig zur Sprache. Ähnlich gab es in Politik und Medienöffentlichkeit vermehrt Wortmeldungen. Offenbar eine neue Situation. Nannten sich eben noch Heino oder Freddy Quinn ,Stimme der Heimat‘, tönte der ,Ruf der Heimat‘ inzwischen von Heimatschutz-Bündlern. Blicke ich auf sechs Jahrzehnte Berufsleben als Kulturwissenschaftler zurück, kann ich mich an keine Phase erinnern, in der der Heimatbegriff so häufig und so heftig diskutiert worden ist wie im letzten Jahrzehnt.“ Inzwischen berühre die Heimatdebatte alle Bereiche unseres kulturellen Lebens. Genauere „Positionsbestimmung“ sei angesagt. Und das motiviere zu geschichtlichen Rückblicken: Seit wann von Heimat geredet werde, für wen das in früheren Zeiten welche Bedeutung hatte, was ehedem daran strittig war.
Ethnologen und Volkskundler hätten schon vor gut fünfzig Jahren die lange Geschichte der „Heimat“ erklärt und die konservative Volks- und Deutschtümelei aufgearbeitet, die mit dem Heimatbegriff verbunden war. „Ist da nicht längst alles gesagt und gut sortiert nachzulesen?“, fragt Mühlberg, und weiter: „Dies alles noch einmal? Man muss ja kein linker Internationalist sein, wenn man eine Hemmschwelle spürt, sich auf ,Heimat‘ einzulassen. Ist es doch – wie Martin Walser 1967 ganz positiv formulierte – ,sicher der schönste Name für Zurückgebliebenheit‘: Tatsächlich ist dieser ,Name‘ – ähnlich wie Volk, Vaterland und Nation – ein arg kompromittierter Begriff, ideologisch anrüchig, konservativ-kleingeistig, gut für manipulative Projekte zu gebrauchen, aber ungeeignet für die ,Aufklärung der werktätigen Massen über ihre wahren Interesse‘.“ Gerade erst habe ein Aufruf zu mehr internationaler Solidarität das geschmähte Wort als negativen Kampfbegriff eingesetzt: „Solidarität statt Heimat“ sei der Titel. „Vielleicht eine unglückliche Alternative, machen doch andere solidarische Internationalisten die ,Beheimatung‘ von mittellosen Flüchtlingen zu ihrem Programm.“
So gebe es gute Gründe für eine ernsthafte Beschäftigung mit der Heimat-Thematik. „Denn niemand sollte ignorieren, dass dieser ramponierte Begriff hierzulande immer noch – oder wieder – zu den universellen Werten gehört. Selbst wenn es bei gebildeten Deutschen kaum ein anderes Wort gibt, das so widersprüchliche Reaktionen auslöst, zeigen Untersuchungen doch, dass für eine überwältigende Mehrheit der Deutschen Heimat ein positiver Begriff ist. Auch unter den politisch links orientierten Zeitgenossen.“
Nach seiner sehr instruktiven Darstellung des Heimatproblems in der deutschen Geschichte, darunter auch in der DDR, resümiert Mühlberg, dass die Romantiker des 19. Jahrhunderts „Zwitterwesen“ waren: „Modernisierer und Traditionalisten zugleich. Einerseits befreiten sie sich von vielen Zwängen tradierter Lebensführung, wollten einmalige Individuen sein, selbstbestimmt in ihrer Liebe und den Leidenschaften. Und gleichzeitig kultivierten sie die Sehnsucht, hatten sie Heimweh, suchten sie nach ewigen Werten, nach dem Unbedingten – im ,einfachen Leben‘ wie in der erhabenen Natur. Die heute nachwachsende Generation der begüterten und gebildeten Schichten agiert sehr konsequent selbstbestimmt nach eigenen Lebensmaximen – darin den Romantikern verwandt. Eigenständig auch, weil in den letzten Jahrzehnten etliche Beschränkungen aufgehoben worden sind: Dienstpflichten fielen weg, etliche Grenzen ebenso, Homosexuelle dürfen heiraten, weltweite Kommunikation wurde allen zugänglich, 60 Prozent der jungen Leute wollen studieren, immer auch mal im Ausland, alle zieht es in die großen Städte, alle wollen selbstbestimmt arbeiten. Die Soziologin Cornelia Koppetsch nennt sie ,Kosmopoliten‘, ,an Werten wie Toleranz und Weltoffenheit orientiert, politisch interessiert und zivilgesellschaftlich engagiert‘. Ihre Lebensweise muss die Traditionalisten aller politischen Lager irritieren, auch weil sie bei den Jungen die Sensibilität für ihre berechtigten Bedenken vermissen. Darin liegt die große Gefahr der Spaltung der Gesellschaft. Starke Tendenzen dazu sind nicht zu übersehen.“
Von diesem Befund kommt Mühlberg zu einer dezidiert linken Perspektive. Linke Politik sei „praktische Kapitalismuskritik auf zwei Ebenen. Einmal geht es um die Gestaltung der Globalisierung, um Erhaltung der Erde als Lebensraum, um die Regulation der Finanzmärkte, um Durchsetzung weitgreifender Sozialstandards. Sie ist Friedenspolitik, ist sozialer Ausgleich durch Entwicklungshilfe usw. Und dann ist es auf der zweiten Ebene die ,heimatliche‘ Sozial- und Gerechtigkeitspolitik in der Region, in der Kommune, im Kiez, in der Schule, in den Freizeiteinrichtungen – praktisches Engagement für günstigere Lebensbedingungen, für Aufstiegschancen der Unterprivilegierten wie gegen den neoliberalen Abbau sozialer Sicherheiten vor Ort. Auch wird vor allem hier über behutsamen Umgang mit der Natur entschieden. Das alles kann als ,Heimatpolitik‘ verstanden werden, die auf das positive Verhältnis der Vielen zu ihrer Heimat bauen kann. Solche Politik setzt sich für das Wohlergehen der vielen Heimaten im Lande ein und fördert alle kulturellen Formen, in denen Heimat erlebbar ist.“ In diesem Sinne ist „Heimat“ ein dezidiert linkes Konzept.
In weiteren Beiträgen schreibt der aus Baden-Württemberg kommende Kulturwissenschaftler und Ethnologe Wolfgang Kaschuba über „Beheimatung in der Migrationsgesellschaft“, Dirk Baecker über „Heimat als Reflexionsbegriff“ und Jörg Dürrschmidt über „Weltgewinn und Heimatverlust“. Christoph M. Michael von der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn meint denn auch unter Hinweis auf die Umbenennung des Innenministeriums unter Horst Seehofer in „Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat“: „Es mag paradox erscheinen, doch den Heimatbegriff zu entpolitisieren und ins Private zu verschieben, erhöht letztlich nur seine politische Sprengkraft.“ Das versteht man besser, wenn man dieses Heft gelesen hat.