22. Jahrgang | Nummer 25 | 9. Dezember 2019

Verdammt ungerecht – 40 Jahre feine Unterschiede

von David Legrand

„Jeder hat dieselbe Möglichkeit etwas aus seinem Leben zu machen“, meint die 18-jährige Freiwilligendienstleistende Anne auf die Frage der Chancengleichheit in Bezug auf das Erwerben eines hohen Bildungsabschlusses und einer attraktiven Arbeit. Anne ist eine selbstbewusste Frau, die nach dem Abitur eine Auszeit vom Lernen und sich die Zeit nimmt, im Krankenhaus ein freiwilliges soziales Jahr abzuleisten, bevor sie, wie ihr Vater, Medizin studiert. Bereits von klein an lernen viele, dass „jeder seines Glückes Schmied ist“ – hört sich so an, als hätten wir es selbst in der Hand, wie unser Leben verläuft.
Dana ist ein aufgewecktes Mädchen, das, als ich die Wohnung betrete, zunächst mit sicherem Abstand das Geschehen verfolgt. Das 10-jährige Mädchen ist vor zwei Jahren mit seiner Familie in eine kleine Stadt in Deutschland gezogen und besucht dort die Grundschule. Die Familie kommt aus Rumänien und versucht, sich hierzulande etwas aufzubauen. Die Mutter arbeitet auf dem Feld, sie hält mir eine Kartoffel entgegen, um zu verdeutlichen, dass sie auf dem Feld als saisonale Erntehelferin tätig ist. Alle sprechen nur rudimentär deutsch, so dass eine Verständigung schwierig ist. Dana hat zwei Geschwister. Um ihre jüngere Schwester muss sie sich häufig kümmern, wenn die Mutter bei der Ernte auf dem Feld ist. Zur Schule kann Dana dann nicht gehen, erzählt mir die Mutter. Die ältere Schwester geht ebenfalls arbeiten, reinigt in einer Pizzeria, der Vater hilft auf dem Bau.
Dana zeigt mir das Zimmer, in dem sie mit ihren beiden Schwestern wohnt. Ich stelle mir vor, wie schwierig es sein muss, Hausaufgaben zu machen zwischen den auf dem Boden liegenden drei Matratzen und der Kleidung, während parallel die beiden Geschwister im Raum sind. Einen Schreibtisch suche ich vergebens. Dana hat es also schwer, in der Schule zu lernen und überhaupt anzukommen.
Die Eltern müssen Geld verdienen, da sie als EU-Zugezogene keine Ansprüche auf Sozialleistungen per se haben. Obwohl die Eltern arbeiten, reicht das Geld kaum für Schulmaterialien. Aufgrund der Schulpflicht, der Dana oft nicht nachkommt, bekam die Familie bereits einen Bußgeldbescheid vom Jugendamt. Für Dana sind die Hürden, etwas aus ihrem Leben zu machen, deutlich größer als bei anderen Kindern, die mit Schulsachen ausgestattet sind, jeden Tag zur Schule gehen können und deren Eltern um die Relevanz einer guten Bildung wissen und auch die Ressourcen haben, diese zu fördern.
PISA- und IGLU-Studien haben in den 2000er Jahren die Diskussion über die Chancenungleichheiten im Bildungssystem befördert. Kinder, die aus einem Akademiker-Haushalt kommen, haben deutlich größere Chancen auf den Erwerb eines hohen Bildungsabschlusses als Kinder aus Nichtakademiker-Haushalten, so eines der Ergebnisse dieser Studien. Arm bleibt in der Regel arm und reich bleibt in der Regel reich, könnte man es kurz und knapp umschreiben.

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Eine differenziertere Erklärung darüber, weshalb sich soziale Ungleichheiten über Generationen hinweg reproduzieren, liefert Pierre Bourdieu in seinem vor 40 Jahren erschienenen soziologischen Klassiker „Die feinen Unterschiede“. Seine Thesen gehen über die ökonomisch begründeten Klassenverhältnisse, wie sie etwa bei Marx dargestellt werden, hinaus. Bourdieu erkennt, dass weitere Ressourcen wie etwa kulturelle und soziale eine Klassenzugehörigkeit mit begründen. So ist es ihm zufolge entscheidend für den Bildungserfolg oder das Erlangen eines attraktiven Jobs, dass soziale Kontakte, heute würde man von Vitamin B sprechen, vorhanden sind, die das Vorhaben unter anderem in Form von Nachhilfe oder Arbeitsgelegenheiten unterstützen.
Die geforderte Schulsprache, allgemeine schulbezogene Verhaltensweisen oder der Geschmack im Feld Schule sind akademisch geprägte kulturelle Werte, die Bourdieu neben anderen als kulturelles Kapital bezeichnet. Da jene Verhaltensweisen in der Schule Kinder aus Akademiker-Haushalten von klein auf vorgelebt bekommen, so sein Ansatz, haben sie gegenüber jenen, die nicht so aufgewachsen sind, einen Vorteil, um im von Akademikern gemachten System zurechtzukommen. Sie kommen mit der Schulsprache und den geforderten Verhaltensweisen besser zurecht als diejenigen, denen die Verhaltensnormen fremd sind.
Bei der Frage, wie Verhaltensweisen geregelt werden, ohne dass diese auf eine Befolgung von Regeln basieren, verweist Bourdieu auf den Habitus, den jeder Mensch inne hat. Der Habitus beruht auf Erfahrungen, die sich in der Wahrnehmung, Denk- und Handlungsweise niederschlagen. Er bezeichnet das gesamte Auftreten einer Person, wie etwa Lebensstil, Geschmack und Sprache. Bourdieu differenziert die Gesellschaft in Klassen und spricht von der Arbeiter-, Mittel- und Oberklasse, in denen der Habitus geprägt und zum jeweiligen Klassenhabitus ausgebildet wird. Da der Habitus ihm zufolge träge ist und immer nach Situationen sucht, die denen seiner Genese gleichen, tendieren wir dazu, uns in sozialen Situationen aufzuhalten, die wir kennen.

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In den vergangenen 40 Jahren hat sich Gesellschaft vielschichtig verändert, jedoch zeigen die Implikationen aus den Lebenswelten von Dana und Anna, dass die Mechanismen der Reproduktion sozialer Ungleichheiten weiterhin bedeutende Elemente sozialen Zusammenlebens ausmachen.
Der Malocher von früher scheint weniger präsent in unseren Vorstellungen; so ist der klassische Arbeiter, wie der Bergarbeiter, der aus einer Arbeiterfamilie stammt und ein regional verwurzeltes Leben als Arbeiter genau wie seine Vorfahren und Nachkommen führt, quantitativ betrachtet hierzulande seltener anzutreffen. Aus der Arbeiterklasse ist ein Milieu von Gelegenheitsjobbern, Saisonarbeitern und Leistungsaufstockern geworden, deren Arbeit nicht mehr identitätsstiftend sein kann, weil sie für viele zu fragil ist. Die Situation der sporadischen Hilfsarbeiter, die sich regional immer weniger verankern können, sondern vielmehr den Arbeitsgelegenheiten, die sich ihnen bieten, mitsamt ihren Familien hinterher ziehen müssen, führt dazu, dass sich räumliche Identitäten auflösen und kulturelle sowie soziale Enträumlichungen stattfinden. Sie katalysieren soziale, kulturelle, ökonomische und dadurch bedingt politische Partizipationsasymmetrien. Warum sollte man sich in Vereinen engagieren, politisch einbringen oder das Schulleben mitgestalten, wenn einem die Perspektiven langfristig zu verweilen und ein Zuhause zu finden, verwehrt bleiben?
Die feinen Unterschiede sind heute vielschichtiger, aber nicht weniger bedeutsam. Soziale Disparitäten reproduzieren sich weiterhin und auch der Zugang zu Bildung, Arbeit und anderen Dingen hängt immer noch stark vom sozialen Hintergrund ab. Dana wird sich stärker anstrengen müssen, um einen hohen Bildungsabschluss zu erlangen, als Anna, die von ihrer Familie auf dem Weg zu einem Bildungsabschluss unterstützt wird.
Die Aussage von Anne bedarf der Ergänzung, dass zwar jeder die Möglichkeit hat, etwas aus seinem Leben zu machen, jedoch die Chancen dafür sehr ungleich sind. Ein erster Schritt, Chancenungleichheiten zu reduzieren, ist, sich deren Existenz bewusst zu werden. Hier kommt der politischen Bildung eine tragende Rolle zu und auch die grundlegenden Überlegungen Bourdieus können helfen, das Verständnis für Partizipationsasymmetrien in unserer Gesellschaft zu fördern. Soziale Ungleichheiten befördern heute aufgrund der Auflösung von Identitätsankern, der fragilen Lebensformen und deren Enträumlichung weitaus stärker zentrifugale Kräfte gesellschaftlichen Zusammenlebens als dies vor 40 Jahren der Fall war.

David Legrand, Jahrgang 1981, arbeitet als Dozent an der Hochschule für Verwaltung und am Niedersächsischen Studieninstitut für kommunale Verwaltung. Schwerpunkt seiner Lehre sind sozialwissenschaftliche Themen. Er lebt in Celle.