von Hermann-Peter Eberlein
Der Untergang der „Welt von gestern“, der bürgerlichen Welt vor dem Ausbruch des 1. Weltkrieges, die Stefan Zweig in seinen letzten Lebensjahren rückblickend so eindrücklich beschrieben hat, ist seit 1913 Gegenstand einer Fülle von Publikationen. Die „Wiener Moderne“ ist es seit Jahrzehnten – man denke an das großartige Buch von Hilde Spiel „Glanz und Untergang“ von 1987. Wer etwas Neues beitragen möchte, muss entweder bislang unbekannte Forschungsergebnisse präsentieren können oder die Ereignisse aus einer ungewohnten, erhellenden Perspektive darstellen.
Letzteres hat Arne Karsten unternommen, Privatdozent an der Universität Wuppertal und durch eine Anzahl von Monographien unter anderem zur frühneuzeitlichen römischen und venezianischen Geschichte ausgewiesen. Seine Perspektive ist die der Verlierer – derer, die vor dem Kriegsausbruch jener bürgerlichen Welt angehört haben und die nun ihr Zerbrechen erleben. Speziell ist es das Verhältnis von Arthur Schnitzler zu der jungen Tochter eines jüdischen Bankiers, Stephanie Bacharach, das das Gerüst von Karstens Darstellung bildet. Das ist ein Wagnis: Schnitzler hat zwar eine Fülle von Aufzeichnungen (Briefe und Tagebücher) hinterlassen, war aber letztlich ein unpolitischer Mensch; von Sophie Bacharach gibt es bis auf zwei Briefe und einige Postkarten an Schnitzler beinahe keine Quellen. Karsten muss also ihren Lebensweg fast ausschließlich über die Außenperspektive rekonstruieren.
Doch das Wagnis hat sich gelohnt: Karsten gelingt es, um diesen an sich dünnen roten Faden herum ein Bild der Jahre zwischen 1911 und 1919 zu zeichnen, das durch seine Verbindung von Kultur-, Mentalitäts- und politischer Geschichte besticht und durch seinen brillanten Stil zum Lesen verführt. In fünf mal fünf Kapiteln breitet der Autor sein Panorama aus und korrigiert dabei en passant auch Sichtweisen, die sich seit Jahrzehnten beim Publikum festgesetzt haben – so etwa, wenn er den Medienkrieg beschreibt, bei dem die Alliierten den Mittelmächten aufgrund der größeren Nähe zwischen Presse und Politik haushoch überlegen waren: „So wurden etwa Bilder von russischen Pogromen benutzt, um dem geneigten Publikum die Spur der Verwüstung vor Augen zu führen, die die Deutschen in Belgien hinterlassen hatten.“ Fake-News vor hundert Jahren also. Besonderes Gewicht erhalten auch die italienische Politik des Irredentismus, die sich am Beispiel Triest zeigt, und die mit erheblichen Gräueln an der Zivilbevölkerung einhergehende Annexion Libyens durch Italien nach 1911 sowie die Magyarisierungspolitik des ungarischen Ministerpräsidenten Graf Tisza, der gleichzeitig eine möglichst große Autonomie von Wien verfolgte.
Immer wieder aber, manchmal nach langen Ausflügen in die Politik oder ins Schlachtengetümmel, kehrt Karsten zu seinen Protagonisten zurück: zu Schnitzler und seiner jungen Freundin und wohl nur kurzzeitigen Geliebten. Stephanie Bacharach ist die eigentlich tragische Gestalt des Buches – höhere Tochter, klug, bildungsbeflissen, die durch den Bankrott und anschließenden Suizid ihres Vaters verarmt, neu Fuß fasst, im Krieg Krankenschwester in Lazaretten wird und sich 1917 schließlich ebenfalls das Leben nimmt. Kurzzeitig gehört sie zum Kreis um Schnitzler und Berta Zuckerkandl, in deren Salon Max Reinhardt und Gustav Klimt verkehrten und wo sich Alma Schindler und Gustav Mahler kennengelernt hatten.
Berta Zuckerkandls Schwester war mit dem Bruder von Georges Clemenceau verheiratet, womit die europäischen Dimensionen dieses lokalen Kreises deutlich werden. Europäische Breite zeichnet den Band über den rein politischen Gegenstand hinaus generell aus, was an der Weite von Arne Karstens Horizont liegt, der immer wieder etwa auch Thomas Manns Entwicklung in der Zeit seiner „Betrachtungen eines Unpolitischen“ in den Blick nimmt.
Die Bildauswahl ist gelungen; die Abbildungen illustrieren den Text, ohne ihn zu dominieren. Das Bild der Menschenschlange vor einer Wiener Kriegsküche findet sich auch in Bernhard Viels 2013 ebenfalls bei Beck erschienener Biographie über Egon Friedell.
Eine Biographie ist ein einfacheres Genus; Karsten hat ein Experiment gewagt und es ist ein schönes, ein unterhaltsames und geistreiches Buch daraus geworden. Dass dies „ganz wesentlich an der Atmosphäre an der Bergischen Universität Wuppertal“ liegt, „die für geistige Arbeit Freiräume lässt und Anregungen bietet, wie sie heutzutage alles andere als selbstverständlich sind“, gereicht dieser einstigen Lehrerbildungsanstalt, die in keinem Ranking auftaucht, zur Ehre.
Arne Karsten: Der Untergang der Welt von gestern. Wien und die k. u. k. Monarchie 1911-1919, C.H. Beck, München 2019, 270 Seiten, 26,95 Euro.
Schlagwörter: Arne Karsten, Hermann-Peter Eberlein, Untergang, Welt