22. Jahrgang | Nummer 12 | 10. Juni 2019

Weißes Dreieck ohne Grund

von Angelika Leitzke

Irgendwie kam mir die Sache komisch vor. Mir, der lieber unter dem Apfelbaum sitzen und nebst Butterbroten gute Bücher verzehren wollte, statt Beiträge in Versteigerungskatalogen zu studieren. Hier musste ich etwas lesen über die Genealogie des Dreiecks in der modernen Kunst des 20. Jahrhunderts. Hatte ich was verpasst? Nun, noblesse oblige, verstand aber dann das Preis-Leistungs-Verhältnis nicht so ganz. Eine knappe viertel Million Euro für ein simples Dreieck?
Leider ist das Werfen von Tomaten nach alter Sitte des Protests nicht in jenem heiligen Betrieb üblich, der es jedoch als Kunst bezeichnet, wenn jemand drei Tomaten an die Wand schmeißt, zumal Tomaten mittlerweile teuer geworden sind. Mit ihnen zu werfen kann sich der nicht leisten, der lieber unter dem Apfelbaum sitzen und nebst Butterbroten gute Bücher verzehren will. Vielleicht tun es die Büchsentomaten zu einem knappen halben Euro vom Discounter auch. Deren konservierter Saft ergibt vielleicht ein eindringlicheres Rot im Wurfgeschoss, wenn auch für die Putzkolonnen nicht so leicht zu beseitigen.
Doch zurück zur Realität. Da hängt nun für eine Versteigerung bei einem deutschen Auktionshaus ein Werk an der Wand, nein, es hängt nicht, es befindet sich, für den Beschauer tangibel unerreichbar, knapp unterhalb der Zimmerdecke, laut Katalog ein Werk des Meisters Palermo: ein weißes Dreieck, gemalt in Kasein auf Nessel über Holz (23,2×46,2 cm).
Blinky Palermo (1943–1977) hieß eigentlich Peter Heisterkamp, stammte aus Leipzig und war in den 1960ern Meisterschüler von Joseph Beuys an der Düsseldorfer Kunstakademie. Der Mann mit dem Hut, der gegen den drögen Wirtschaftswunderkapitalismus und die traditionelle dröge Kunstproduktion der westdeutschen Nachkriegszeit mit Fett und Filz konterte, soll ihm angeraten haben, den wenig prestigeträchtigen Geburtsnamen Peter Heisterkamp für den mehr verkaufsträchtigen Namen Blinky Palermo einzutauschen. Anyway, Peter alias Blinky, der auch die Frauen gerne miteinander vertauschte, war von 1965 bis 1967 mit einer gewissen Ingrid Denneborg verheiratet, aus deren Besitz nun das besagte weiße Dreieck unter den Hammer kommt. Es gehört zu einer 1966 entstandenen Serie von Dreiecken, und jedes davon überließ Blinky einer für ihn bedeutsamen Frau.
Erinnern wir uns: „Das schwarze Quadrat auf weißem Grund“, ein Ölgemälde von Kasimir Malewitsch (1878–1935), knapp 80 mal 80 cm groß, heute in der Tretjakow-Galerie in Moskau, war 1915 Exponat einer Ausstellung in der Galerie von Nadeschda Dobytschina in St. Petersburg. Berühmt wurde die Show nicht nur deswegen, da sie von der Kritik verrissen wurde, sondern weil der gerade von Malewitsch erfundene Suprematismus das Licht der Öffentlichkeit erblickte: ein Brainstorm sollte über das russische Empire hinweg fegen, statt plumpem Naturalismus, statt „parasitärem Eklektizismus“ in Leben und Kunst, statt schnödem Materialismus und dem „Gerümpel der Vergangenheit“ die völlige Befreiung vom Gegenstand, die reine Farbe an sich., das „befreite Nichts“. Malewitschs Suche nach der ursächlichen Struktur der Welt, die „reine Empfindung“ als Überwindung von Klassengegensätzen und sozialer Ungerechtigkeiten.
Um die Geburtsstunde des Neuen adäquat zu zelebrieren, hing das „Schwarze Quadrat“ in der sogenannten „schönen Ecke“, die ansonsten in den Wohnzimmern der russisch-orthodoxen Christen für die Ikonenverehrung reserviert war und nach Möglichkeit nach Osten gerichtet sein sollte.
Nun war Blinky gewiss kein vom Himmel Gefallener, sondern hat sich durchaus von Beuys’ „erweitertem Kunstbegriff“ und seinem Appell „modern sein!“ sowie von den Düsseldorfer Künstlerkumpanen wie Gerhard Richter, Sigmar Polke, Imi Knoebel und Ulrich Rückriem anregen lassen – die im Übrigen wie Beuys in der gleichen Versteigerung Lose für sich beanspruchen. Der Mann mit dem Hut verehrte Malewitsch, dessen Schrift „Die gegenstandslose Welt“, 1927 als elfter Band in der Reihe der Bauhausbücher erschienen, 1962 ein Comeback im Dumont Reiseverlag feierte. Mit ihr auch das „befreite Nichts“.
Schließlich war die Düsseldorfer Akademie unter Beuys’ Ägide eine Art von Null-Zone: Das Alte musste weg, um Neuem Platz zu machen, egal, wie es aussah, keinesfalls aber treu-brav gegenständlich, denn davon hatte man nach der Nazi-Zeit die Nase voll und außerdem roch es nach materialistischem Wirtschaftswunder. Und man wollte ja modern sein.
Blinky, der ebenso gerne in Serien schuf wie Malewitsch, betrieb daher den Ausstieg aus dem konventionellen Tafelbild mit dem Einstieg in gänzlich andere Formen, mit denen er eine neue Version Räumlichkeit präsentieren wollte. Dagegen ist nun nichts einzuwenden, auch nicht, dass sich Blinkys Dreieck während der Preview so hoch oben an der Wand befindet, platzierte Meister Palermo doch gewöhnlich seine dreidimensionale Geometrie als Unikate über die Türen von Ausstellungsräumen. Auch sei es Ingrid überlassen, sich nach 50 Jahren von ihrem Dreieck zu trennen. Was verwundert, ist allerdings der stolze Preis der Hingabe: bis zu 240.000 Euro soll das weiße Objekt einbringen.
Interessanterweise ist Palermos minimalistisches Triangel zumindest für die Dauer der Vorbesichtigung wie Malewitschs Quadrat nach Osten ausgerichtet, was sicherlich zu seiner Ikonisierung beiträgt. Zu dieser führt ohnehin der frühe und ungeklärte Tod des Künstlers. Zudem krönt Blinky ein ganz anderes Werk: ein 2003 entstandenes Leinwand-Gemälde in Acryl und Sprühfarbe, 212 mal 154 cm groß, des in Berlin lebenden Thomas Scheibitz. Dessen Reiher-Kopf in pastelligen Tönen ist allerdings nur mit 8.000 bis 12.000 Euro taxiert, aber vielleicht treibt Palermos Ikonen-Nähe den Preis in die Höhe. Die heiligen Kühe der Kunst müssen stets gut gemolken werden.
Doch soll der neue Besitzer des Dreieckes dieses nun mit der Spitze nach oben oder nach unten aufhängen? Wenn nach unten: geht dann der Gehalt des Werkes verloren? Und ergibt sich eine Entweihung, wenn Blinky an der Ostwand seines neuen Zuhauses keinen Platz hat oder womöglich gar keinen Käufer findet?
Fragen über Fragen. Und dabei wollte ich lieber unter dem Apfelbaum sitzen und nebst Butterbroten gute Bücher verzehren.