22. Jahrgang | Nummer 6 | 18. März 2019

Die Kunst des Verschwindens

von Angelika Leitzke

Alfred Hitchcock ließ 1938 in seiner berühmten Krimi-Komödie „A Lady vanishes“ eine britische Spionin namens Miss Froy verschwinden. Der Film, der in einer fiktiven Diktatur spielt, hat jedoch ein Happy End: Miss Froy alias Dame May Whitty taucht wieder auf, was man von Menschen, die in non-fiktiven Diktaturen verschwunden sind, gerade nicht behaupten kann. Auch nicht von dem in die Schlagzeilen geratenen deutschen Popsänger Daniel Küblböck, der 2018 über Bord eines Kreuzfahrtschiffes ging.
Es verschwinden aber nicht nur Menschen, sondern auch Kunstwerke: wie beim spektakulären Raub von 1990 aus dem Isabella Stewart Gardner Museum in Boston, wo seitdem dreizehn Gemälde, darunter Rembrandts einziges Seestück, „Sturm auf dem See Genezareth”, und Vermeers „Konzert“ fehlen. Knapp 30 Jahre sind eine beachtlich lange Zeit. Doch schon seit Ende des Zweiten Weltkriegs wurde Franz Marcs berühmter „Turm der blauen Pferde“ von 1913, zuletzt in Hermann Görings Besitz, nicht mehr gesichtet. Er führt nur mehr ein Schattendasein in den Spekulationen umtriebiger Hobby-Fahnder. Kunst wird überdies zum Verschwinden gebracht, indem man sie in den Museumsdepots dem Dornröschenschlaf überlässt, da sie dem zeitgenössischen Publikumsgeschmack nicht zu entsprechen scheinen.
Um noch lebende Künstler verschwinden zu lassen, bedarf es des Nichteintrags bei Wikipedia, dem virtuellen Ersatz für das Lexikon im haptischen Buchformat und in Folgebänden, oder der Eliminierung aus den Medien der sogenannten Öffentlichkeit. Deren Fernsprecher steht schon seit Längerem auf der To-do-Liste der Ausrottung: Smartphone macht’s möglich. Es versendet seine SMS ohne Gebrauch der menschlichen Stimme, die dank der Bandansage per Sprachcomputer auch aus dem telefonischen Gespräch zu verschwinden droht.
Es verschwinden des Weiteren, zumindest was die deutsche Demographie betrifft, Dörfer und ganze Landstriche zugunsten des Runs auf die Großstädte, in denen es sich leichter leben und konsumieren lässt. Verschwunden ist bereits die DDR, hilflose Rekonstruktionen zwecks touristischer Schaulust finden sich mancherorts in Museen statt, seit 2006 auch in einem solchen Berlin.
Das Bargeld soll nun nach skandinavischem Vorbild in Deutschland wohl auch abgeschafft werden zugunsten der Bezahlung mit Plastikkarte oder Smartphone. Damit könne den Märkten für Schwarzarbeit, Drogen, illegalen Waffenhandel und Terrorfinanzierung entgegengewirkt werden, argumentieren die Bargeld-Abschaffer. Online-Zahlung, so weiter ihre Begründung, erspare den Gang zu den Geldautomaten, die in ländlichen Regionen ohnehin rar gesät sind. Vorausgesetzt, es passiert kein Stromausfall.
Mit dem Untergang des Bargeldes wären die Freiheit des Individuums und die Wahrung seiner Anonymität abgeschafft, nebst dem Trinkgeld in barer Münze für Kellner & Co., der Geldspende für Straßenmusikanten und Penner und dem Kopfrechnen beim Einkauf mit Euros und Scheinen, um zu überprüfen, ob das Wechselgeld auch stimmt. Ältere Menschen ohne EDV-Kenntnisse und Minderbetuchte ohne Smartphone würden dann vom Geldtransfer ausgeschlossen sein, doch auch der Sparstrumpf zu Hause, dessen Wartung billiger kommt als die der Geldautomaten, wäre entsorgt, obgleich in seiner Hülle die Noten sicherer sind als bei der Bank, die gerade pleite macht. Schließlich wäre der Datenschutz abgeschafft, denn jede finanzielle Aktion könnte online einsehbar sein. Mit der Abschaffung des Bargeldes würde der Bürger nicht nur zum Sklaven der Finanzbosse und des Staates, sondern zum gläsernen Menschen mutieren, dessen Lebensführung absolut überwachbar und steuerbar ist und dessen Sinn und Anstrengung alleine darin bestehen, online zu sein. Internet, Smartphone und soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter haben bereits Vorarbeit geleistet.
Irgendwann hätte auch den Arzt am Patienten der Teledoktor ersetzt, von dem man nicht weiß, ob es sich um einen echten Mediziner oder nur um ein Bildschirm-Phantom handelt. Die ärztliche Schweigepflicht wäre im Sinne der online-Existenz ausgehebelt.
Ebenso die Kunst des Verschwindens. Sir Alfred würde sich im Grabe umdrehen.