von Manfred Orlick
Das Jahr 1968 war gezeichnet von politisch einschneidenden Ereignissen, die bis heute nachwirken: US-Massaker von My Lai … Ermordung von Martin Luther King und Robert F. Kennedy … Studentenunruhen mit dem Dutschke-Attentat … sowjetische Panzer in Prag … Richard Nixon neuer US-Präsident … Black-Power-Prostest bei den Olympischen Spielen in Mexiko … und … und. Dann am 22. November (in Großbritannien und Deutschland, in den USA am 25. November) gewissermaßen eine Versöhnung mit den schrecklichen Jahresereignissen: die Beatles veröffentlichten ihr neuntes Album, das schlicht „The Beatles“ hieß, aber als „White Album“ in die Musikgeschichte einging.
Das Cover war ganz in Weiß gehalten – nur mit dem blindgeprägten Namenszug „The Beatles“ versehen. Nur die erfolgreichen Fab Four konnten sich so etwas leisten. Das Cover des Vorgänger-Albums „Sergeant Pepper’s Lonely Hearts Club Band“ war noch knallbunt gewesen. Nun reines Weiß als Farbe für Frieden, Freiheit und Wahrheit, aber auch für Spiritualität. Im Februar 1968 waren die Beatles ins indische Rishikesh gefahren, um an der Maharishis Academy of Transcendental Meditation den inneren Frieden zu suchen. Doch die Sinnsuche verlief nicht so wie erhofft: Ringo Starr reiste schon nach zehn Tagen ab, Paul McCartney blieb nicht wesentlich länger, zum Schluss machten sich John Lennon und George Harrison aus dem Staub.
Dennoch gab die kurze spirituelle Erfahrung Anregungen für eine wahre Flut neuer Songs. So schlossen sich die Beatles am 30. Mai 1968 für knapp 20 Wochen in den Abbey Road Studios ein, um an ihrem neuen Album zu tüfteln. Aber unter den vier ehemaligen „Pilzköpfen“ herrschte keine Eintracht mehr, es fehlte der alte Zusammenhalt, jeder verfolgte eigene musikalische Ziele. Aus den rebellierenden Jugendlichen waren individualisierte Erwachsene geworden. George beschäftigte sich mit östlicher Philosophie, Paul mit avantgardistischer Kunst, Ringo fand Gefallen an der Schauspielerei und John hatte eine feste Beziehung mit Yoko Ono, die ständig im Studio anwesend war, was bei den anderen Unmut hervorrief. Ausgerechnet der sonst so lustige Ringo verließ genervt für zwei Wochen die Band. Nachdem das Album schließlich im Oktober 1968 fertig war, zerstreuten sich die vier Beatles in alle Winde. Sie trafen sich erst wieder im Januar 1969 zu den Aufnahmen von „Let It Be“ mit ihrem letzten Konzert auf dem Dach des Apple-Gebäudes.
Doch zurück zum Doppel-Album „The Beatles“, das eine ungewöhnlich lange Spieldauer von mehr als eineinhalb Stunden hatte. Ihr Produzent George Martin hatte vorgeschlagen, dafür 30 neue Songs auszuwählen und eine einfache LP zu produzieren. Doch die Band wollte das Werk nicht zerstückeln und beharrte auf einer Doppel-LP. Hinsichtlich des Vorgänger-Albums „Sergeant Pepper“ waren die Titel ein starker Kontrast. Die Beatles scherten sich nicht mehr um gängige Ansichten, sondern überschritten hier Musikgrenzen. Das Album beginnt mit Dröhnen und quietschenden Flugzeugreifen des Rock-Songs „Back in the USSR“ – eine humorvolle Persiflage auf Chuck Berrys früheren Titel „Back in the U.S.A.“ (1959). Ein ziemlich gewagter Titel im Kalten Krieg, denn er besang die Freude, die Sowjetunion wiederzusehen.
Akustische Balladen wie „Dear Prudence“ und „Mother Nature’s Son“ kontrastierten mit Ohrwürmern wie „Long Long Long“ und „Julia“, dem beschwingten „Ob-La-Di Ob-La-Da“ oder dem frenetischen Hard-Rock-Titel „Helter Skelter“. Ein zentraler Titel war die experimentelle Ton-Collage „Revolution 9“, die schon avantgardistische Dimensionen hatte. Diesen schrägen Klängen folgte das orchestrale Wiegenlied „Good Night“, Lennons Wiegenlied für seinen Sohn Julian. Viele halten jedoch Harrisons „While My Guitar Gently Weeps“ für den musikalischen Höhepunkt von „White Album“; er ist jedenfalls zum beliebtesten Song des Albums geworden. Seine Kollegen mochten den Song nicht sonderlich, doch Harrison lud einfach Eric Clapton ins Studio ein. Dieser entlockte seiner Gitarre eine Melodie, die der Aufnahme ihrem unverwechselbaren Charakter verlieh. Letztendlich war auch Ringo mit seinem ersten eigenen Titel „Don’t Pass Me by“ vertreten. Teilweise hatten die Musiker ihre Instrumente getauscht oder diverse Studiomusiker wurden hinzugezogen.
„White Album“ hatte sofort einen großen kommerziellen Erfolg – allein in den ersten Wochen wurde es vier Millionen Mal verkauft … und das trotz der äußeren Nüchternheit. Aber es sollte sich von der Farbigkeit und Üppigkeit von „Sergeant Pepper“ bewusst abheben. Bei den ersten Ausgaben wurde zusätzlich eine fortlaufende Nummerierung aufgedruckt. Dem Album waren außerdem ein Poster und vier Porträts der Musiker (kein Gruppenfoto!) beigefügt.
Aus Anlass des 50jährigen Jubiläums ist das „White Album“ in mehreren Sonderausgaben erschienen, teilweise gemischt und ergänzt mit zusätzlichen Demo- und Session- Aufnahmen – eine Super Deluxe Edition für alle echten und junggebliebenen Beatles-Fans. Die Edition Olms dagegen hat einen Bild-Text-Band (englische Originalausgabe) beigesteuert, der die Geschichte des Albums erzählt und mit vielen historischen Fotos illustriert. Die wichtigsten politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Ereignisse des Jahres 1968 werden ebenfalls kurz beleuchtet.
Brian Southall: The White Album: Revolution, Politics & Recordings, Edition Olms, Zürich 2018, 192 Seiten, 25,00 Euro.
Schlagwörter: Brian Southall, Manfred Orlick, The Beatles, White Album