21. Jahrgang | Nummer 19 | 10. September 2018

Etwas Militärtheorie gefällig?

von Ludwig von Platow

Sozialisten und vergleichbar ideologisch Verortete tun sich schwer mit dem Militär. Sie können durchaus dem Klassenfeind fürchterlichste Gewalt androhen, doch wenn es konkret wird …
Lenin wurde zwar, durch Studien von Engels, mit dem Werk des Carl von Clausewitz bekannt. Doch das Praktische delegierte er gerne an andere: den nackten Terror an einen durchgeknallten polnischen Kleinadeligen (Mielkes Idol Feliks Dzierżyński) und die Organisation der ebenfalls nicht zimperlichen Roten Armee an einen vormaligen Residenten in Wiener Kaffeehäusern: Leo Trotzki.
Dazu passt – mit trivialer Note – der Spruch des Sozialdemokraten Noske, als er 1919 die Niederschlagung des Spartakusaufstandes autorisierte: „Einer muss den Bluthund machen.“
Die Ausnahme ist Friedrich Engels. Er verband militärische Theorie mit Reflexionen über die entsprechende Praxis. Ihm ging es um eine dem Proletariat angemessene Strategie. Auch gewann er aus der erfolgreichen Verteidigung der jungen französischen Republik gegen die Heere des alten Regimes generelle Einsichten in Sachen Operationsführung. Und das Studium der Beziehungen zwischen militärischer Taktik und der Technik seiner Zeit war ihm unerlässlich. Er, der Sekretär der Ersten Sozialistischen Internationale, sah sich als Generalstabschef der heraufkommenden proletarischen Revolution – worüber seine Genossen im englischen Exil nicht wenig schmunzelten.
Die Qualität der Engels’schen Analysen zeigt sich vor allem auch in der Behandlung eines Gegenstandes von damals wahrhaft revolutionärer Bedeutung. Es geht um den Eisenbahntransport. In seiner leider etwas zu schmal geratenen Studie „Eisenbahn und Krieg“ arbeitet Lutz Unterseher heraus, wie umfassend Engels sein Studienobjekt anging. Dieser sah den Schienentransport nicht nur als ein ideales Mittel, die mit der Einführung der Wehrpflicht angeschwollenen Heere schneller bewegen zu können, sondern auch als militärisches Ziel: Unterbrechung der gegnerischen Verbindungen als Schritt zum Sieg.
Unterseher setzt die erfolgreichen Feldzüge des älteren Moltke, gegen Österreich und Frankreich, sowie die des Unionsgenerals Sherman gegen die Südstaaten zu den Engels’schen Überlegungen in Beziehung. Helmuth von Moltke mit seinen Eisenbahnaufmärschen erhält die Note 2, der Amerikaner die Note 1. Hat letzterer doch die Eisenbahn nicht nur als Transportmittel genutzt, sondern auch als Angriffsobjekt gesehen. Das hätte von Engels’ Studien zum Bürgerkrieg in Amerika angeregt sein können, die dieser zwei Jahre bevor Sherman, davon allerdings nichts wissend, seinen Kavallerie-Raid gegen die durch Georgia laufenden Nachschublinien begann, erstellt hatte.
Versuche, diese Ansätze – und damit die Geschichte – zu wiederholen, machten daraus eine Farce. (Unterseher verweist auf ein entsprechendes Diktum von Marx.)
Gemeint sind zwei Beispiele aus dem Ersten Weltkrieg. Da ist zum einen der ins Absurde überzogene Eisenbahnaufmarsch des Schlieffenplans für den Feldzug gegen Frankreich und  zum anderen der Kleinkrieg des Lawrence von Arabien gegen die türkische Hedschasbahn, der – militärisch irrelevant – seine Bedeutung einzig durch die Medien erhielt.
Aus Untersehers Feder stammt auch eine weitere Studie, in der uns wiederum der Wüstenheld Lawrence begegnet – und zwar weil dessen Hauptpropagandist, der britische Militärtheoretiker und -historiker Basil Henry Liddell Hart, im Mittelpunkt steht. Dieser wurde der „Clausewitz des 20. Jahrhunderts“ genannt und von John F. Kennedy zu einem der größten Denker in Sachen Krieg und Frieden erklärt. Liddell Hart galt als einer der geistigen Väter des „Blitzkrieges“, den die Panzertruppen der Nazis gegen Frankreich führten, und als im eigenen Lande verkannter Prophet.
An diesem Image ist allerdings kräftig gekratzt worden. Danach erscheint Liddell Harts Reputation wesentlich durch Eigenwerbung erworben. Und er stellt sich uns nun als selbst für einen Engländer zu spleenig dar, hatte er doch nicht nur ein Faible für Damenmode, sondern auch für die entsprechende Unterwäsche.
Unterseher unternimmt es trotzdem herauszufiltern, was am Werk des Briten Bestand hat. Nicht die epigonalen Elogen auf weitreichende Panzerangriffe sind es, sondern seine differenzierten Arbeiten über eine stabile Verteidigung, die nicht provoziert und so zur Kriegsvermeidung beiträgt. Aus Opportunismus stand Liddell Hart aber nicht klar zu dieser Leistung.
Trotz konzeptionellem Hin und Her ging es ihm, so Unterseher, letztlich um die Minimierung menschlichen Leides: Blitzkrieg, um das endlose Schlachten à la Erster Weltkrieg zu vermeiden – stabile Abwehr, um Krieg unwahrscheinlicher zu machen.
Notiz für den deutschen Stammtisch: Die Maginotlinie wurde nicht direkt angegriffen, sondern durch kaum geschütztes Gebiet umgangen, das zu Gunsten einer sinnlos offensiven Konzentration der britisch-französischen Kräfte von diesen preisgegeben worden war.

Lutz Unterseher: Eisenbahn und Krieg. Theorie und Praxis von Friedrich Engels, Helmuth von Moltke, William Sherman, Lit Verlag, Berlin-Münster-Wien-Zürich-London 2017, 112 Seiten, 29,90 Euro.

Ders.: Militärtheoretiker im Fadenkreuz: Liddell Hart und das Gewicht der Kritik, Lit Verlag, Berlin-Münster-Wien-Zürich-London 2018, 104 Seiten, 29,90 Euro.