von Eckhard Mieder
Sie trafen sich in der Gartenlaube, die seinem Vater gehörte: Wilhelm war 20, Margot 19 Jahre alt. Der Vater war es, der die beiden fand. Wilhelm lag tot auf dem Fußboden, Margot lag tot auf der Couch. Dekoriert war das Häuschen noch immer mit dem Raumschmuck der Faschings-Party, die vor „einiger Zeit“ stattgefunden hatte.
Ob es ein kaputter Propangas-Ofen war, der dem Liebespaar die Luft nahm, ob sie freiwillig aus dem Leben schieden, („weil sie sich nicht lieben durften“) – neben den Fotos der Jugendlichen schreibt BILD auf der Titelseite vom 12. März 1968. „Reiche Tochter traf sich heimlich mit dem unerwünschten Jugendfreund“.
Ein Kriminalfall ist es nicht; eine Romeo-und-Julia-Geschichte ist es auch nicht. Die Familien Capulet und Montague waren verfeindet und begegneten sich auf der Augenhöhe gleichen gesellschaftlichen Status‘. Die Familien Belz und Wollwinder begegneten sich höchstens zufällig auf einem lokalen Fest. Das Mädchen Margot ist eine der besten Partien in Reutlingen; der Junge Wilhelm war Automechaniker aus Pfullingen. Eine Tante des Mädchens sagt aus: „Die beiden hatten sich sehr lieb. Aber wegen des gesellschaftlichen Unterschiedes wollte mein Bruder von dem jungen Mann nichts wissen.“
Ihr Bruder, Margots Vater, ein Fabrikant, ist sich sicher: „Sie waren nur gute Kameraden. Wenn mehr dahinter gesteckt hätte, hätte mir meine Tochter etwas gesagt.“
Die Mutter Margots: „Ich habe meiner Tochter gesagt, daß dieser Mechaniker nicht der richtige Mann für sie ist. Ich hatte deshalb mit ihr ernsthafte Gespräche.“
Margot und Wilhelm hatten sich bei der Evangelischen Jugend in Pfullingen kennengelernt, und viele Leute im Ort glauben, „daß die beiden ‚zusammen gingen‘.“ Das Großartige an einer Liebe oder an einem Verliebtsein: Sie schert sich um nichts. Wer sich liebt, tanzt um sich selber zu einer Musik, die nur die beiden Liebenden hören. (Und dass anderswo ein „Kommunarde“ namens Langhans, ein Liebender ganz neuer Art, einen Tag ins Gefängnis muss, weil er während einer Verhandlung vor dem Landesgericht Berlin pausenlos mit Fritz Teufel schwatzte – was und wen interessierte das schon in Pfullingen oder Reutlingen?)
Die BILD-Sprache ist deutlich: reich und arm, schicklich und unschicklich, oben und unten.
Ein ungleiches Pärchen, eine soziale, reine Unterschiedlichkeit wie aus dem Märchenbuch des Kapitalismus – ist BILD dichter an der Realität der Menschen als andere, „seriösere“ Blätter? Ist das Boulevard-Blatt ein Stachel in der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“* (Helmut Schelsky, 1953)? Ist Westdeutschland, „das spätestens seit Ende der 1950er Jahre durch den Konsens der Demokraten geprägt wurde“ (FAZ, 24.04.2018) nicht doch auch noch eine Klassengesellschaft, die sich hinter den Fassaden der Wunderwirtschaftsjahre versteckt? Auch wenn sich die SPD vom Klassenkampf in Begriff und Tat verabschiedet hat. Auch wenn mancher Arbeiter Mercedes fährt und die „nivellierte Mittelstandsgesellschaft eine große gesellschaftliche Mischungsmaschine“ (Prof. Andreas Reckwitz, F.A.S, 22.10.2017) ist? So eine Art Betonmischer für das Fundament der sozialen Marktwirtschaft?
Am 1. März 1968 beginnt in Nürnberg der Prozess gegen den 19jährigen Hilfsarbeiter Roland Purkhardt. Er nennt sich „Django der Rächer“ und hat einen Renter und zwei Studentinnen getötet.
Am 5. März 1968 steht in München ein Kohlenträger und Gelegenheitsarbeiter vor Gericht, der seine Frau, eine Unternehmerstochter, mit einer Hundekette erdrosselt hat. Auch in diesen folgenden Fällen des „Pitaval 68“ erscheint die Realität einer Gesellschaft, die sich klassenlos gibt – oder BILD lügt.
* – „Die nivellierte Mittelstandsgesellschaft, die sich in der Nachkriegszeit ausbildete, wird abgelöst von einer neuen Klassendifferenzierung, ja Klassenpolarisierung. Entscheidend ist: Diese bezieht sich nicht nur auf die materielle Dimension des Einkommens, sondern sehr viel stärker noch auf die kulturelle Ebene des Lebensstils, des Lebensgefühls und der Lebensperspektive.“ Der Begriff der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ verschwindet schon in den 1970er Jahren in der Versenkung; vielleicht hat es sie nie wirklich gegeben? Prof. Andreas Reckwitz spricht von einer „Drei-Drittel-Gesellschaft“, die sich seit den 1980er Jahren herausbildet. „Es ist im Westen eine zahlenmäßig gewichtige neue Mittelklasse von Personen entstanden, die über Hochschulbildung verfügen und einen ganz eigenen Lebensstil des ‚guten Lebens‘ entwickeln, der mit dem Anspruch gesellschaftlicher Vorbildlichkeit auftritt. Dieser neuen, hochqualifizierten Mittelklasse stehen die alte Mittelklasse sowie eine neue Unterklasse gegenüber, die spiegelbildlich in die soziale nd kulturelle Defensive geraten. Diese drei Klassen bilden eine konflikthafte Drei-Drittel-Gesellschaft.“ (F.A.S, 22.10.2017)
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