21. Jahrgang | Nummer 12 | 4. Juni 2018

Zweimal: Paris, Mai ’68

von Hermann-Peter Eberlein

1968: Studentenproteste in Nanterre zum Jahresbeginn, Demonstrationen in der Rue d’Ulm und auf der Place du Trocadéro gegen die Absetzung von Henri Langlois als Leiter der Cinémathèque française durch den Kultusminister André Malraux, im März Streiks bei Garnier in Redon, Schließung der Universität Nanterre am 2. Mai – am Tag danach beginnt das, was wir Pariser Mai nennen: Besetzung der Sorbonne durch linke Studenten und Räumung durch die Staatsorgane, Schließung der Universität, Straßenkämpfe mit der Polizei (gipfelnd in der Nacht der Barrikaden vom 10. auf den 11. Mai mit Hunderten von Verletzten), Generalstreik, schließlich vorsichtiges Einlenken der Regierung und Zerfall der Protestfront.
Die im vergangenen Jahr verstorbene Schauspielerin Anne Wiazemsky, damals gerade zwanzig Jahre alt und frisch verheiratet mit dem Regisseur Jean-Luc Godard, hat einen Erinnerungsroman über diese Zeit geschrieben, der 2015 bei Gallimard erschienen und unter dem Titel „Paris, Mai ’68“ nun auch in deutscher Übersetzung herausgekommen ist. Es ist ein ganz subjektives, sehr anschauliches, beinahe beschwingtes Buch, das mit der Teilnahme an der großen Demonstration gegen die Absetzung Langlois’ im Februar 1968 beginnt und melancholisch mit Godards Selbstmordversuch im Mai 1969 endet: „Das traurige Ende unserer Geschichte verlief wie viele andere und betraf nur uns beide; nun war ich keine privilegierte Zeitzeugin mehr. Ich werde nicht davon schreiben.“ Wo sie aber als privilegierte Zeitzeugin erzählt, da tut sie es aus der Perspektive einer jungen Frau, die voller Neugierde und Sympathie auf die Ereignisse blickt, aber an politischen Diskussionen desinteressiert und in politischen Aktionen ungeübt ist – lieber fährt sie auf Rollschuhen durch die Straßen, während in Versammlungen debattiert wird. Sie tut es als – durch ihre Rolle in „Die Chinesin“ – bereits bekannte Schauspielerin, dank ihres Mannes mit einem Schweizer Pass ausgestattet, der ihr aus Polizeikesseln zu entrinnen hilft. Sie tut es als behütete Enkelin des Literaturnobelpreisträgers François Mauriac, die mit dem berühmten Regisseur erstaunlich bürgerlich zusammenlebt. Sie schreibt über die Radikalisierung Godards, der keine Filme mehr drehen will, über seine wachsende Eifersucht und über die eigenen Filmpläne. Sie schildert die Straßenschlachten und die Flucht vor der Gewalt der Polizei in die gemeinsame Wohnung in der Rue Saint Jacques. Sie beschreibt die Rückkehr von Cannes nach Paris mit all den Verwicklungen, die der Generalstreik und der Mangel an Benzin mit sich bringen. Sie begegnet den Beatles und den Stones (mit denen Godard, einer vertraglichen Verpflichtung folgend, höchst ungern dreht), dem Philosophen Gilles Deleuze („Dieser hatte die Marotte, sich die Fingernägel sehr lang wachsen zu lassen, und erklärte jedem, der danach fragte, dass Puschkin es genauso gemacht habe, man darin also eine Art Hommage sehen dürfe.“) und immer wieder dem Studentenführer Dany aus Nanterrre – Daniel Cohn-Bendit. All dies macht ein entzückendes Buch aus, unprätentiös, einfühlsam, mit einem Gespür für Nuancen, das die Atmosphäre der Bohème jener Tage zum Leben erweckt.
Einen gänzlich anderen Eindruck vermittelte eine Ausstellung, die im Mai unter dem Titel „Derrière les boucliers – Mai 68“ in der Préfecture de Police in Paris zu sehen war: den Eindruck von Technokratie und Selbstgefälligkeit. Selbstverständlich hat auch die Perspektive der Polizisten, die arrière les boucliers (hinter den Schilden) gekämpft haben, ihr Recht – zumal sie in der Geschichte wegen ihrer Brutalität ganz schlecht wegkommen. So fand man, was man zu finden erwarten konnte: Bilder von brennenden Autos und verletzten Beamten; das Bild des Brigadiers Christian Brunet, der zwölf Tage im Koma gelegen hatte, bei der Aufnahme in die Légion d’Honneur; Fotos von der Einsatzleitstelle damals und heute; eine Tafel über den damaligen Polizeipräsidenten Maurice Grimaud. „Dank seiner Kaltblütigkeit erreichte er, dass aus der Revolte keine Revolution wurde.“ Ruhe und Ordnung (will sagen: die Macht der Herrschenden) aufrechtzuerhalten – so die Botschaft der Ausstellung –, darin ist die Polizei in dem halben Jahrhundert seit 1968 noch professioneller, noch erfolgreicher geworden.
Leider stimmt das – und zum Glück nur halb. Die Polizeipräsenz in Paris ist unübersehbar, die öffentlichen Debatten sind angespannt und ernst. Die Leichtigkeit des Seins aber, die Wiazemskys Buch heraufbeschwört, diese Leichtigkeit des Seins im Angesicht von Gewalt und Gegengewalt: ob es sie in der Bohème noch gibt, weiß ich nicht – aber man spürt sie auf den kleinen Plätzen jenseits der Touristenzentren, wo Studenten in Bücher vertieft ihren Wein trinken und junge Mütter mit ihren Kindern tanzen.

Anne Wiazemsky: Paris, Mai ’68. Ein Erinnerungsroman, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2018, 168 Seiten, 18,00 Euro.