21. Jahrgang | Nummer 2 | 15. Januar 2018

Charlotte, Goethes Geistesverwandte

von Wolfgang Dahle

In Goethes Weimarer Freundeskreis war sie ein wichtiger Mittelpunkt: Charlotte von Stein. An ihren 275. Geburtstag im vergangenen Dezember soll hier erinnert werden. Als Goethes Muse war sie es, die eine für damalige Verhältnisse neue Form von Liebe und Freundschaft entwickelte. Sie wird als „die edle Kühle, den deutschen Klassizismus verkörpernde Frau“ bezeichnet, die Goethe lenkte und für sich einzunehmen wusste, die auch seine schöpferische Kraft als Dichter weckte und förderte.
1742 wurde sie als Tochter der Familie von Schardt in Eisenach geboren, doch bald zog die Familie nach Weimar, wo der Vater das Amt eines Haus- und Hofmarschalls annahm. Charlotte wurde Hofdame der Herzogin Anna Amalia und Vertraute der Herzogin Luise von Sachsen-Weimar. Außer mit Goethe war sie mit vielen Geistesgrößen befreundet, mit Friedrich von Schiller und Johann Gottfried von Herder und deren Familien.
Dreiunddreißig Jahre war sie alt, als der um sieben Jahre jüngere Goethe nach Weimar kam. So trafen sich die beiden im Spätherbst des Jahres 1775 als zwei Menschen, die es von Anfang an als ihre persönliche Bestimmung empfanden, füreinander da zu sein. In Goethe lernte sie einen jungen Mann kennen, den sie ihrem Wesen nach erzieherisch beeinflussen konnte. „Goethes Briefe an Frau von Stein aus den Jahren 1776–1820“, die erstmals 1848 herausgegeben wurden, gehören zu den schönsten Dokumenten, die ihre Beziehung bezeugen. Sehr eindringlich berichtet er ihr etwa über seine Natureindrücke während eines Besuchs auf der Wartburg im September 1777. Mehrmals besuchte Goethe den Harz, meist in Begleitung, und machte dort seine geologischen Entdeckungen. An Charlotte von Stein schrieb er unter anderem „… sagen Sie’s niemand: dass meine Reise auf den Harz war, dass ich wünschte den Brocken zu besteigen, und nun Liebste bin ich heute oben gewesen … Nun Liebste tret ich vor die Thüre hinaus da liegt der Brocken im … Mondschein über den Fichten vor mir und ich war oben heut.“
Am 12. März 1781 auf der Höhe seiner Leidenschaft, schrieb er ihr aus der Ferne: „Meine Seele ist fest an die deine angewachsen, ich mag keine Worte machen, du weisst, daß ich von dir unzertrennlich bin. Ich bitte dich fußfällig, vollende dein Werk, mache mich recht gut! Du kannst’s.“ Über dieses innige Verhältnis ist in der Literatur viel veröffentlicht worden.
Charlotte, in deren Adern auch englisches Blut floss, hatte Englisch gelernt und dafür gesorgt, dass der Park von Schloss Großkochberg, einem weiteren Aufenthaltsort der Familie, im Stil der englischen Gartenkunst gestaltet wurde. Eben dort war sie im Jahre 1764 unter Vermittlung der Herzogin Anna Amalia mit dem herzoglich-weimarischen Stallmeister Friedrich Freiherr von Stein vermählt worden. Im März 1765 wurde ihr erstes Kind geboren, der Sohn Karl, mit dem sie später oft korrespondierte. In neun Jahren brachte sie sieben Kinder zur Welt.
Mit Goethes Italienreise 1786–87 tat sich zwischen ihm und Charlotte eine Kluft auf. In einem Schreiben an Karl Ludwig von Knebel erwähnte Charlotte im August 1786 noch, dass sie kürzlich einen Brief von Goethe erhalten habe, worin er ihr mitteile, er werde noch acht Tage in Karlsbad bleiben und wohl vor sechs Wochen nicht zurückkehren. Am 2. September schickte er ihr ein Lebewohl aus Karlsbad und schrieb: „Du sollst allsdann erfahren wohin du mir schreiben kannst.“ Tags darauf brach er dann heimlich in Richtung Brenner und Italien auf. Über die Stimmung in Weimar gibt ein Brief von Caroline Herder Auskunft, in dem sie schreibt: „Sie (Charlotte) ist noch immer nicht herzlich mit Goethe, das merk ich aus allem.“ Im Januar 1787 schrieb die Frau Rath Goethe aus Frankfurt an Charlotte von Stein: „Ich freue mich, daß die Sehnsucht, Rom zu sehen, meinem Sohne geglückt ist. Es war von Jugend auf sein Tagsgedanke, nachts sein Traum.“ In diesem zweiten Jahr seines Italien-Aufenthalts bemerkte Charlotte in einem Brief vom 9.Oktober an Knebel: „Wenn Goethe geübter in der Kunst wäre, sollte er seinen Geheimrat mit einem Platz in der Malerakademie von Neapel vertauschen, und er würde sich glücklich dabei befinden.“ Goethe litt aber in Italien sehr unter ihrem Schweigen.
Ihre Gunst versagte Charlotte auch Christiane Vulpius, der späteren Frau von Goethe. Christiane, 1765 geboren, hatte lange mit dem Dichter verkehrt und war bereits 41 Jahre alt, als sie ihn amtlich heiratete. In Weimar war man moralisch entrüstet: Er, der angesehene Minister und geniale Dichter und sie das arme Blumenbindermädchen! Sie stand aber fest auf ihren Füßen und hielt ihrem Gatten den Rücken frei von alltäglichen Sorgen.
Der erhaltene Briefwechsel mit Goethe ist aber leider nur einseitig: Charlotte von Stein verlangte hat ihre Briefe zurück, als der Dichter sich von ihr trennte, und soll sie verbrannt haben! So sind nur noch ihre Briefe aus der späteren Zeit erhalten, als eine stille Freundschaft sie wieder in eine gewisse Beziehung zu Goethe brachte. Am 8. Januar 1804 schrieb sie ihm: „Ich höre, Sie sind krank, lieber Geheimderat; da alles so um mich herum stirbt, so wird mirs Angst für alles, was mir lieb ist, sagen Sie mir ein freundlich Wort daß Sie leidlich sind.“ Goethe erholte sich bald.
Über den Tod der Frau von Stein am 6. Januar 1827 nach längerer Krankheit geben die Biografien und der Briefwechsel der Zeitgenossen weitere Auskunft. So schrieb der Kanzler von Müller an Karl Friedrich Graf von Reinhard am 15. Januar nach einem Besuch beim Dichter am Frauenplan: „Nun ist vor kurzem seine älteste Freundin, Frau von Stein, hier, 84 Jahre alt, gestorben. Das griff ihn, ob er schon nicht ein Wort darüber sprach, doch auch sehr an.“
Es bleibt ihr Ruhm, dass sie als Goethes Freundin eine neue Form der geistigen Liebe zu vermitteln vermochte, eine Form von Liebe und Freundschaft, die die Frau gleichwertig neben den männlichen Partner stellt.