von Edgar Benkwitz
Es mag müßig erscheinen, sich mit Landtagswahlen im bevölkerungsreichen Indien zu beschäftigen. Doch neben ihrer regionalen Bedeutung legen sie immer auch Zeugnis vom Zustand der wichtigsten politischen Kräfte im gesamten Land ab. Das wurde bei den Wahlen im westindischen Unionsstaat Gujarat Mitte Dezember besonders deutlich. Politische Brisanz erhielt dieses Votum noch dadurch, dass in Gujarat seit 22 Jahren die hindunationalistische Indische Volkspartei (BJP) regiert, davon 13 Jahre unter dem heutigen indischen Premierminister Narendra Modi als Chef der Regionalregierung. Er und seine Mitkämpfer machten Gujarat zu „ihrem Staat“, einer Art Laboratorium für das nationalistische Hindutum (Hindutva). Hier wurde das „Gujarat-Modell“ kreiert – die Art und Weise, wie ganz Indien umgestaltet werden soll.
Doch aus den hochfliegenden Plänen der Partei, im neuen Parlament eine Zweidrittelmehrheit zu erringen, wurde nichts. Die BJP erhielt zwar knapp die absolute Mehrheit mit 99 von 182 Sitzen, verlor aber 16 Wahlkreise an den politischen Rivalen, die Kongresspartei, die ihre Mandatszahl auf 80 steigern konnte. Statt sich als übermächtiger Sieger feiern lassen zu können, entging die Partei haarscharf einem Debakel. Die dramatische Situation und ihre möglichen nationalen Auswirkungen wurden am Tag der Stimmauszählung deutlich. Als zwischenzeitlich die Kongresspartei mit nur einem Punkt führte, stürzte der Leitindex der Börse in Mumbai um 1000 Punkte ab!
Politische Beobachter in ganz Indien rätseln nun, ob mit dem Ergebnis von Gujarat der Höhepunkt des landesweiten Aufstiegs der Hindunationalisten, der 2014 mit dem phänomenalen Sieg der BJP bei den Unterhauswahlen begann, überschritten wurde. Damals schlug das Pendel in der Zentrale stark nach rechts aus, von hier ergoss sich der Strom hindunationalistischen Gedankenguts in alle Landesteile. Mittlerweile bestimmt die BJP die Geschicke in 19 von 29 Unionsstaaten. Sie besetzt neben dem Posten des Premierministers auch die des Präsidenten, des Vizepräsidenten und des Sprechers des Unterhauses. Diese politische Struktur noch weiter auszubauen ist das erklärte Ziel der BJP.
Doch dessen Umsetzung verläuft nicht mehr reibungslos. Obwohl die BJP nun zum sechsten Mal die Landesregierung in Gujarat bildet, ist ihre Stabilität durch die wachsende Unzufriedenheit in einigen Bevölkerungsschichten gefährdet. Gujarat mit seinen etwa 65 Millionen Einwohnern gilt als einer der Gewinner der Globalisierung auf indischem Boden. Eine rasche Industrialisierung schuf riesige Raffinerien mit angeschlossener chemischer Industrie, eine moderne Autoindustrie wurde aus dem Boden gestampft. Neuerdings etabliert sich eine Solarindustrie, die bereits jetzt zu den weltführenden zählt. Mit Krediten und Technologie aus Japan wird hier auch die erste Hochgeschwindigkeitsstrecke des Landes gebaut, die die Hauptstadt Ahmedabad mit Mumbai verbinden wird. Dagegen leiden die Kleinindustrie und das Handwerk, vor allem die Landwirtschaft steht vor enormen Problemen. Daraus resultiert eine hohe Arbeitslosigkeit. In Indien drängen pro Monat eine Million neuer Arbeitskräfte auf den Markt. Die moderne Industrie kann sie nur in begrenztem Maße aufnehmen. Besonders zugespitzt hat sich die Lage unter den Jugendlichen, die über Perspektivlosigkeit klagen. Es zeigt sich, dass das gepriesene „Gujarat-Modell“ zwar Industrie und Infrastruktur schafft, jedoch bleiben Bildung, Gesundheitswesen und sozialer Zusammenhang auf der Strecke.
Indische Medien berichten, dass zwischen BJP und Kongresspartei der erbittertste Wahlkampf seit langem geführt wurde. Um einen Fall der hindunationalistischen Festung zu verhindern, wurde als letztes Mittel der wohl populärste Sohn Gujarats eingesetzt – Premierminister Narendra Modi. Sein Auftreten ließ es aber an der gewohnten Überlegenheit und Überzeugungskraft fehlen. Stattdessen schrille Töne, plumper Populismus und haltlose Beschuldigungen des politischen Gegners. So beschuldigte Modi seinen Vorgänger im Amt des Premierministers, den integren Manmohan Singh, der offenen Konspiration mit dem Erzfeind Pakistan. Anlass war eine Hochzeitsfeier in Gujarat, an der ehemalige Spitzenpolitiker aus Indien und Pakistan teilnahmen. Zusätzliche Munition für seine Angriffe erhielt Modi durch die abfälligen Bemerkungen eines führenden Kongresspolitikers über seine niedrige Kastenzugehörigkeit, die einen Sturm der Entrüstung hervorriefen. Möglicherweise – so die Meinung vieler Beobachter – haben diese Schmähungen, die übrigens von Parteipräsident Rahul Gandhi disziplinarisch geahndet wurden, der Kongresspartei den Wahlsieg gekostet. Doch insgesamt zeigte sich, dass die primitive hindunationalistische Rhetorik der BJP – wie Muslim- und Pakistanhass – nicht mehr so recht griff. Die Mobilisierung der Massen gelang im Vergleich zu früher deutlich schlechter. Die BJP litt unter einem Mangel an Glaubwürdigkeit. Das ist sicherlich Resultat ihrer langen Herrschaft, verbunden mit der ausbleibenden Umsetzung vieler Versprechungen. Verständlicherweise zog die Kongresspartei nach der Übergabe der Parteiführung von Sonja Gandhi an Sohn Rahul zusätzliche Aufmerksamkeit auf sich. Doch konnte der Gandhi-Sprössling bei seinen Auftritten nicht recht überzeugen, es fehlt neben Charisma vor allem an konstruktiven Überlegungen. Stattdessen versuchte sich Rahul auf dem Parkett von Religion und Kasten, heiße Eisen in jedem Wahlkampf. Zum Gespött der Presse besuchte er in wenigen Wochen 27 große Hindutempel (vom Besuch einer Moschee ist nichts bekannt) und ließ sich dort segnen – der Hinduanteil an der Bevölkerung beträgt hier 89 Prozent. Bisher hatte Rahul, genauso wie seine berühmten Vorfahren aus der Dynastie der Nehrus und Gandhis, kaum religiöse Neigungen gezeigt – doch sollte ganz offensichtlich der Zweck die Mittel heiligen.
Offen unterstützte er die Kaste der Patidars oder Patels, eine insgesamt zwielichtige Angelegenheit. Ihre Angehörigen, zumeist Händler und Landbesitzer, gehören seit jeher zu den einflussreichen Schichten des Landes. Mit eindrucksvollen Aktionen thematisieren sie die Perspektivlosigkeit der jungen Generation, vor allem den Mangel an Ausbildungsmöglichkeiten. Als Ursache des Übels beklagen sie die staatlich garantierte Förderung unterer Kasten und Kastenloser mittels eines Quotensystems, das ihnen angeblich Studien- und Arbeitsplätze raubt. Für sich fordern sie die gleichen Privilegien, bekannt als „positive Diskriminierung“, und finden dafür Rahul Gandhis Unterstützung. Nach Meinung von Fachleuten bedarf das System, das übrigens einst von der Kongresspartei geschaffen wurde, tatsächlich einer Reform; das Eingehen auf die Forderungen einzelner Gruppierungen heißt aber, die Büchse der Pandora zu öffnen, denn überall in Indien wünschen sich Politiker hoher Kasten ein Ende der Förderung für die Unterprivilegierten.
Mit dem Setzen auf Religion und Kaste hat die Kongresspartei zwar Stimmen und Mandate gewonnen, sich aber gleichzeitig den Ruf eingehandelt, eine „soft Hindutva“ – einen weichen Hindunationalismus – zu bedienen.
In Indien stehen in diesem Jahr weitere Wahlen in wichtigen Unionsstaaten bevor, im Frühjahr 2019 folgen die Unterhauswahlen, bei denen es um die Macht in Neu Delhi geht. Mit Blick auf Gujarat wird deutlich, dass es für die BJP schwieriger wird, Erfolge zu erringen. Die Aufbruchstimmung, die Narendra Modi einst schuf, ist weitgehend verschwunden. Drängende soziale Probleme sind in den Vordergrund gerückt und es wird sich zeigen, ob sie weiterhin durch hindunationalistische Rhetorik und das Schüren von Konflikten mit Minderheiten überdeckt werden können. Die Kongresspartei hat zwar an Selbstvertrauen gewonnen, sie muss sich aber als echte Alternative profilieren. Ihre demonstrative Hinwendung zum Hindutum, nur um der BJP Wähler abzujagen, dürfte sich als der falsche Weg erweisen.
Schlagwörter: Edgar Benkwitz, Gujarat, Indien, Narendra Modi, Rahul Gandhi, Wahlen