von Kurt Starke
Gewalt, Gewalt, Gewalt, Ausbeutung, Unterdrückung, Erniedrigung, Demütigung, Übergriffigkeit, Unsittlichkeit, Unhöflichkeit … Was für eine Welt!
Der #MeToo-Aufschrei hallt durch den Blätterwald, er findet vielfältige Resonanz in den Netzwerken und tönt, so scheint es, allüberall. Nur in meinem Umfeld, einem ländlich-kleinstädtischen Raum, wird er offenbar von vielen überhört. Das irritiert mich, und so frage ich nach, bei Frauen.
Die Antworten fallen knapp aus: „Ach so, das, nee, interessiert mich nicht, ist nicht meins.“ – „Die machen sich doch nur wichtig, alles Geschäft, armselig.“ – „Vor 60 Jahren hat mein Brigadier, ich war 18, zu mir gesagt: ‚Ich nagle dich!‘ Erst wusste ich nicht, was das bedeutet, und als ich es wusste, habe ich gesagt: ‚Das entfällt.‘ Damit hatte sich das erledigt.“ – „Mit so was kann man jeden zur Strecke bringen.“ – „Wenn mir jemand die Hand auf die Schenkel legt, schieb ich sie weg, und das war’s. Oder es gefällt mir, und ich gehe darauf ein.“ – „Als Überschrift in der Zeitung: ‚Männer sind Schweine‘. Also das geht mir zu weit, schon wegen der Schweine, das sind doch ganz tolle Tiere.“ – „Wieder so eine Welle, die anderes überspült. Ich habe andere Sorgen.“ – „Wenn ein Mann seine Frau zusammenschlägt, ist das etwas anderes, als wenn er ihr am Hintern krabbelt und sie verführen will.“ – „Wenn Frauen grundsätzlich etwas gegen Männer haben, finde ich das extrem. Die einen gegen die anderen, da kommt nichts Gutes dabei raus.“ – „Lieber mal ein verunglücktes Kompliment als gar keins.“ – „Ich bin kein Opfer und will auch keins sein. Opfer ist kein Beruf.“
Diese Stimmen sind in keiner Weise repräsentativ. Aber sie gibt es eben auch, und ich frage mich vor dem Hintergrund meiner Forschungen, was da eigentlich passiert und warum die Wahrnehmung dieses Mediensturms nicht einheitlich ist. Mehr oder weniger hypothetisch möchte ich neun Gesichtspunkte nennen.
1. Dreifache Viktimisierung
Wenn einer Frau etwas angetan wird, wenn sie sexuelle Gewalt erfährt, wenn sie sexistisch beleidigt und entwürdigt wird, dann wird sie zum Opfer. Doch damit nicht genug. Sie wird zum zweiten Male Opfer, wenn sie nicht in der Lage ist, sich dagegen zu wehren, sich nicht traut, darüber zu sprechen. Sie ist hilflos, das macht sie klein. Scheinbar löst sich ihre Ohnmacht auf, wenn sie sich aufschreienden Berühmtheiten, die öffentlich anklagen, anschließt und im Schutze dieser Prominenz das eigene Schicksal präsentiert. Ihr gesellschaftlicher Status erhöht sich, nicht als Mensch, nicht als Frau, sondern als Opfer, und das ist sie dann gewissermaßen dreifach.
2. Entdifferenzierung
Von der verbalen Entgleisung bis zur rohen Gewalt, von der unangemessenen Berührung bis zur Vergewaltigung wird alles in einen Topf geworfen und als Problem konstruiert. Jeder Differenzierungsversuch – in Talkshows und auf Tagungen ist das gut zu beobachten – wird sofort als Verharmlosung, als Verhöhnung der Opfer, als Identifikation mit Tat und Tätern bewertet. Die Grenze wird zwischen Tat und Nichttat gezogen, zwischen Opfern und Tätern, die Art der Tat ist dann zweitrangig. Wenn aber alles Tat ist, dann geht die Schwere der Tat unter, dann wird diese relativiert.
3. Sexualisierung
Die hemmungslose Sexualisierung des Nichtsexuellen, wie sie in den westlichen Industriegesellschaften zu beobachten ist, gilt auch für #MeToo. Vieles, was mit Sex nichts zu tun hat – die rüde Bemerkung, die herabwürdigende Haltung, die körperliche Gewalt, die Ungleichbehandlung – wird sexuell konnotiert, und diese Zuschreibung emotionalisiert zusätzlich.
4. Lynchjustiz
Der Aufschrei und die Solidarisierung mit dem Aufschrei ist Klage, Anklage, Urteil. Wo ein Opfer ist, ist auch ein Täter. Ist er erkannt und benannt, wendet sich sein Schicksal; er ist erlegt und erledigt, fast egal, was er verbrochen und ob er überhaupt etwas verbrochen hat. Es ist schon erstaunlich, wie in der medialen Öffentlichkeit dieses unzivilisierte Verhalten mit einer Art „Geschieht ihm nur recht“-Gestus toleriert wird. Die Unschuldsvermutung gilt, aber nur für das Opfer. Die Aussagen eines Opfers werden gelegentlich auch Teil eines politischen Machtkampfes. Das Opfer interessiert dann nicht, es wird gewissermaßen für politische Interessen missbraucht.
5. Separierung
Der Sexismus-Diskurs geht mit dem Gewalt-Diskurs einher: Der verletzlichen Frau steht der zu Gewalt und Übergriffen neigende Mann gegenüber. Dieser Standard ist ein Konstrukt. Er hat nichts oder nur wenig mit der Wirklichkeit zu tun. Alle meine empirischen Untersuchungen zeugen von einem veränderten Geschlechterverhältnis, insbesondere im Osten. Die Hauptkampflinie verläuft keineswegs zwischen den beiden Geschlechtergruppen. Längst ist klar: Gesellschaftliche Veränderungen lassen sich nicht im Kampf von Frauen gegen Männer, sondern nur miteinander erreichen. Wer Frauen gegen Männer ausspielt, festigt überholte Bilder von Mann und Frau. Im partnerschaftlichen Alltag gibt es den liebevollen Mann genauso wie die liebevolle Frau, und es gibt ihn, den bösen Mann, aber auch sie, die böse Frau.
6. Reduzierung
An uralten Schulen kann man manchmal noch die nach Geschlecht getrennten Eingänge erkennen, über denen eingemeißelt wie für alle Zeiten, „Knaben“ oder „Mädchen“ steht. Die Schüler waren eben keine Menschen, sondern Knaben oder Mädchen. Inzwischen hat sich die Koedukation durchgesetzt, aber die Trennung besteht noch in vielfacher Weise, auch sprachlich, so in der Standardanrede nach Geschlecht, meine Damen und Herren, liebe Leserinnen und Leser. Es scheint, als könne kein Zauber verbinden, was die Mode streng geteilt. Die Separierung der Geschlechter bedeutet zugleich eine Reduzierung. Aus der ganzen Persönlichkeit, die ein Geschlecht hat, wird das Geschlecht, und das wird im Falle von #MeToo und dem Sexismus-Diskurs weiter auf Opfer und Täter reduziert. Der Mensch wird verkleinert. Das bringt Unmut hervor.
7. Unzulässige Verallgemeinerung
Die scheinlustige Behauptung „Männer sind Schweine“ hat viele Aspekte: die Reduzierung eines Menschen auf das Mannsein, die Verhohnepipelung des Begehrens, die Konstruktion von Männern als Täter, die Verschändlichung von Sexualität. Einer der Aspekte ist der Generalverdacht, die plumpe Behauptung, dass Männer eben so sind, die Generalisierung männlicher Gewalt. Die Kriminologin Daniela Klimke moniert: „Die moderne Gefahrenwahrnehmung hat … den normalen Mann als Aggressor im Visier … Männlichkeit erscheint heute als tendenziell übergriffig und gefährlich“ (DIE ZEIT, 8.2.2017).
Ganz so fürchterlich sieht die Wirklichkeit nicht aus. Ein winziges Beispiel aus meiner deutschlandrepräsentativen Studie „Postmenopause und Sexualität“. Nur (aber immerhin!) ein Prozent der Frauen zwischen 50 und 60 Jahren sagen, ihr Partner würde sie zum Sex zwingen, aber 24 Prozent beklagen, dass sie zu wenig Geschlechtsverkehr hätten. Die allermeisten Partnerbeziehungen sind nicht von sexueller Gewalt geprägt, es sei denn, man geht davon aus, dass Frauen prinzipiell die Immissio penis in einer Opferrolle erleben und jeden heterosexuellen Geschlechtsverkehr als männliche Gewalt sehen.
8. Verdunklung
Ungeachtet aller Lust, Sinnlichkeit, Lebensfreude, Liebe und Leidenschaft, die mit dem Sexuellen verbunden sind – oder gerade deswegen –, klingt Sexualität eher verrucht, gelegentlich voller unedler Unter- und Obertöne. Die vorzügliche Annahme lautet: Es gibt dunkle Seiten der Sexualität: anormativ, unmoralisch, widernatürlich, unsittlich, aggressiv, gemeingefährlich, gewalttätig. Die „dunklen Seiten“ der Sexualität sind ein Konstrukt, das sexuelles Begehren (Verlangen, Begierde, Trieb) verdächtigt, Böses hervorzubringen, vor allem jenes Begehren, dessen Steuerungsfähigkeit infrage steht. Es gibt aber keine dunklen Seiten der Sexualität, dieses Denken führt zu nichts. Die dunklen Seiten existieren – im Umgang mit Sexualität, in der Gesellschaft, in Organisationen und Gruppen, in Partnerschaft und Familie, und es gibt sie, die dunklen Seiten in der Persönlichkeit – dunkle Seiten, die sich auch im sexuellen Gewande entäußern können. Dafür liefert #MeToo viele Beispiele.
9. Strohfeuerwerk
Manche Vorbehalte gegenüber #MeToo sind resignative Distanzierungen. Der Wirbel um #MeToo wird als mediale Show aufgefasst, die rasch verblüht und nichts Wesentliches verändert, ja – so die Allerskeptischsten –, die nicht die Veränderung, sondern die Offenbarung von Opfern und Tätern zum Ziel hat. Vielleicht kommt es zu wohlfeilen Gesetzesverschärfungen, wie bisher vorzugsweise im Sexualstrafrecht.
Aber an den Grundfesten wird nicht gerüttelt, nicht an der ungehemmten neoliberalistischen Ausbeutung insbesondere der Schwächeren, nicht an ungeniertem Ausspielen von Mehrheiten gegen Minderheiten und von Minderheiten gegen Minderheiten, nicht an der findigen Aushöhlung der Gleichberechtigung der Geschlechter, nicht an der finsteren Reproduktion konservativer Leitbilder von Frau und Mann …
Zusammengefasst: Die vorherrschende #MeToo-Bewertung hat einen emanzipatorischen Anspruch, ist frauenzugewandt und strukturanalytisch teilweise stark. Zugleich hat sie gelegentlich nicht nur einen männerfeindlichen, sondern auch einen frauenfeindlichen und altklassisch sexualfeindlichen Akzent.
Frauen und Männer leben mit der medialen Ambivalenz des Sexuellen und mit den ätzenden Attacken auf ihr Geschlecht, und zweifellos werden sie in dieser oder jener Weise davon beeindruckt. Sie müssen damit zurechtkommen, dass sie – wie in der Sexismusdebatte – als Persönlichkeit auf ihr Geschlecht reduziert werden, so als gebe es nicht Junge und Alte, Arme und Reiche, Berufstätige und Arbeitslose, Gesunde und Kranke, Ost-, Nord-, Süd-, Westdeutsche, Hiesige und Zugereiste, Religiöse und Atheisten, Feinfühlige und Fläze.
Mit einigem Selbstbewusstsein stemmen sich Frauen wie Männer dagegen. Speziell in Bezug auf Sexualität lässt sich in meinen Untersuchungen eine negative Konnotation von Geschlecht und von Sexualität nicht oder nicht durchgängig finden. Die meisten haben einen positiven Begriff von ihrem eigenen wie von dem anderen Geschlecht, und von dem Geschlecht wie von der Sexualität erwarten sie zwar nicht alles Heil, aber auch nicht prinzipiell Unheil, so wie sie sich selbst auch nicht als Heils- oder Unheilsbringer standardisieren lassen wollen, nicht als Frau und nicht als Mann.
Begehren und Begehrtwerden sind für die meisten Menschen ein Lebenselixier, bis ins hohe Alter. Sie lassen sich Liebe und Lust auf- und aneinander nicht austreiben, schon gar nicht durch eine Debatte, der die Substanz verloren geht.
neues deutschland, 29.11.2017, S. 14. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlages.
Prof. Dr. Kurt Starke, Jahrgang 1938, ist Sexualwissenschaftler und Jugendforscher. Er war Forschungsleiter am Zentralinstitut für Jugendforschung in Leipzig, an dem er von 1967 an bis zu dessen Schließung 1990 arbeitete. Seit Mitte der 1990er Jahre ist er freiberuflich in der Sexualforschung und als Autor tätig.
Vor kurzem erschien Starkes jüngstes Buch: Varianten der Sexualität. Studien in Ost- und Westdeutschland, Pabst Science Publishers, Lengerich 2017, 228 Seiten, 20,00 Euro.
Schlagwörter: Kurt Starke, Sexismus